Jimmy Carter – Prophet, Prediger und Präsident
«Für mich war sein Leben eine Liebesgeschichte von dem Moment an, als er das Licht der Welt erblickte, bis zu dem Moment als er sein Haupt darnieder legte», würdigte Jason Carter, Enkel des verstorbenen Jimmy Carter, seinen Grossvater in der National Cathedrale in Washington. Es sei eine Liebesgeschichte mit Gott und seiner Ehefrau Rosalynn.
Die Grenzen des Wachstums
Nur vier Jahre war Carter im Weissen Haus. Prophetische Jahre, wie Jason Carter betonte. Just an dem Tag, an dem rund um Los Angeles ein apokalyptisches Inferno tobt, erinnert der Enkel an den prophetischen Warner Jimmy Carter. Sein TV-Auftritt im Wollpullover ist legendär. Er forderte die Amerikaner auf, das Thermostat der Heizungen herunter zu drehen und das Auto einmal in der Woche in der Garage zu lassen. Symbolträchtig liess er auf das Weisse Haus Solarpanels montieren. Ronald Reagan montierte sie wieder ab. Sein Nachfolger wollte nichts hören von den «Grenzen des Wachstums», ein einflussreiches Buch, das auch Carter beschäftigte.
«Wiedergeborener Christ»
Noch mehr geprägt als von den düsteren Prophezeiungen des »Clubs of Rome» war Carter von einem Buch: der Bibel. Das tägliche Lesen der Heiligen Schrift und das den Tagesablauf strukturierende Beten war für Carter, so vertraute er es einem Journalisten an, «so selbstverständlich wie das Atmen». In seinem Wahlkampf überraschte er die US-Medienwelt mit seiner Ankündigung, ein «wiedergeborener Christ» zu sein. Das war für die säkularen Reporterschar eine bisher völlig unbekannte Vokabel, wie der Historiker Randall Balmer in seiner Carter-Biografie schreibt.
Nun wollten es die Meinungsforscher genau wissen: Wer im Lande ist ein wiedergeborener Christ? Das erstaunliche Ergebnis: Fast ein Viertel der damals 210 Millionen Amerikaner bekannten sich dazu. Nach dem sogenannten «Affenprozess» um die Evolutionstheorie Darwins im Jahr 1925 hatten sich die «Fundamentalisten» zurückgezogen. Sie blieben apolitisch und zum grossen Teil den Wahlen fern. 1976 mit Carters Kandidatur waren sie elektrisiert. Einen Monat vor der Wahl Carters im Oktober 1976 schrieb das Hauptorgan der Evangelikalen, «Christian Today»: «Nachdem wir jahrzehntelang vom Rest der Gesellschaft weitgehend ignoriert wurden, treten wir nun in den Vordergrund.» Im gleichen Monat erklärte das Polit-Magazin Newsweek 1976 zum «Jahr der Evangelikalen».
Massenhaft gelang es dem Baptisten Carter, die Wählerschaft der wiedergeborenen Christen zu mobilisieren. Das Bündnis sollte nicht von langer Dauer sein. Nur vier Jahre später wurde der Hollywood-Schauspieler Ronald Reagan, wenig bekannt für seinen religiösen Lebensstil, von zwei Dritteln der Evangelikalen gewählt. Mittlerweile ist dieser Wählerblock zu 80 % unzertrennlich mit der Republikanischen Partei verschmolzen.
Gegen Rassendiskriminierung
Warum wendeten sich die Evangelikalen so schnell von Carter ab? Es lag vor allem an seiner Entscheidung, Eltern, die ihre Kinder an religiös ausgerichtete Privatschulen sendeten, in denen weiterhin die Rassentrennung vorherrschte, keine Steuerabzüge zu gewähren. Rassisch getrennte Schulen waren für Carter, der als Farmerbub mit den schwarzen Kindern der Landarbeiter aufgewachsen war, ein Gräuel. 1971 sagte er bei seinem Amtsantritt als Gouverneur von Georgia: «Die Zeit der Rassendiskriminierung ist vorbei.»
Das bestimmte seine politische Agenda, wenn er beispielsweise eine grosse Zahl von schwarzen Juristen in die Bundesgerichte berief. Auch seine menschenrechtsorientierte Aussenpolitik war davon bestimmt. Seine Administration verhängte Sanktionen gegen den Apartheidsstaat Rhodesien und lancierte Initiativen, die zur Unabhängigkeit Namibias führten. Sein grösster aussenpolitischer Erfolg war aber das Camp-David-Abkommen, das zum Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten führte. Eine entscheidende Rolle spielte hier aus der Sicht Carters der spirituelle Faktor: «Wir rangen uns schliesslich zu einem Abkommen durch, da wir alle den gemeinsamen Glauben an Gott teilten», sagte Carter seinem Biografen Jonathan Alter.
In seiner nachpräsidialen Zeit engagierte er sich bei der Seuchenbekämpfung. Das von ihm und seiner Frau gegründete Carter-Center nahm den Kampf gegen den gefährlichen Parasiten Guinea-Wurm auf, von dem vor 20 Jahren jährlich 3,5 Millionen Menschen betroffen waren. Heute zählt die WHO offiziell auf dem afrikanischen Kontinent nur noch sieben Fälle.
Erdnuss-Denkmal in Plains
Für seinen unermüdlichen Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und Hausprojekt für die Ärmsten bekam er 2002 den Friedensnobelpreis. Und seine Heimatgemeinde Plains errichtete dem unermüdlichen Sonntagsschul-Prediger eine Erdnuss als Statue, mitten drin sein breites Grinsen.
Bemerkenswert ist der Schlusssatz im Nachruf des britischen Magazins «The Economist»: «In Amerika verknüpfte sich mit Carters Amtszeit der beunruhigende Gedanke, dass ein tatkräftig regierender Präsident unmöglich auch ein wirklich guter Mensch sein kann.» Vielleicht aber sollte die westliche Welt an dem Tag, an dem Jimmy Carter zu Grabe getragen wurde, darüber nachdenken: Müsste Demokratie nicht so funktionieren, dass nicht nur auftrumpfende Ellbogenmenschen an der Spitze des Staates stehen?
Jimmy Carter – Prophet, Prediger und Präsident