«Kirche als Raum für Gottsuche, Gemeinschaft und Nachdenklichkeit»
«Was fehlt, wenn Gott fehlt?» Mit dieser Preisfrage lud die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich 2018 zum Schreiben ein. Die prämierten Antworten präsentierte der Theologische Verlag TVZ 2019 in einem Buch: Biografische Erkundungen, Spoken Word, Essays, Gedichte und Dialoge. Der Band zeigt: Die persönlichen Standpunkte und gewählten Formen sind vielfältig, Gott kann einem ganz unterschiedlich abhandenkommen, entsprechend verschieden wird die entstehende Leere beschrieben.
Die Fragestellung drückt eine Glaubensnot aus: Schreibende haben immer wieder versucht, sich ihrer anzunehmen und die Leerstellen in Worte zu fassen. Die Gottesferne kann tief erschüttern, den einzelnen und die Gesellschaft. Martin Walser drückte es 2013 in einem Essay so aus: «Verlassen zu sein, ist ein Schuh, der auch drückt, wenn man ihn nicht anhat. Die Höhle in jedem von uns, in der das Dunkel Platz hat, das zu uns gehört, dürfen wir Gott nennen. Und sie ist leer, diese Höhle. Leute, denen die Leere fremd ist, sind mir fremd.Lasst die Leere zu. In ihr ist Gott daheim.»
Ist auch Kirche in der Leere daheim, findet sie sich in leeren Kirchenräumen? Verschwindet mit Gott auch die Kirche und soll man ihr Verschwinden einfach zulassen? Und wenn nein, wieso nicht?
Betonung des Fehlenden
Jetzt also die Fragestellung: «Was fehlt, wenn Kirche fehlt?» Eine ökumenische Vorbereitungsgruppe hatte sich diese Frage ausgesucht – als Tagungsthema für die Begegnung der parlamentarischen Vertreterinnen und Vertreter der beiden Kantonalkirchen. Erst einmal darf man den Organisatoren Respekt vor dem Gewicht des Themas zollen; es gäbe sicher Angenehmeres, Heitereres, um sich ökumenisch bei Apéro und Tangoklängen über die Konfessionsgrenzen hinweg zu begegnen.
Dann aber fällt auf: Das Begegnungsmotto beinhaltet eine recht defizitorientierte Fragestellung mit einer doppelten Betonung des Fehlenden. Für Aussenstehende mag das ein bisschen danach klingen, als hätten die beiden Synoden sich schon damit abgefunden, dass sie und die Institution, die sie als Parlament demokratisch legitimieren und repräsentieren, bald überflüssig sein würden. Stattdessen hätte man auch von der Aktivseite ausgehen können, positiven Entwicklungen, anerkannten Leistungen.
Zum Beispiel von all jenen, für welche die Pandemie oder die Klimakrise oder der Krieg in Europa die Frage aufgeworfen hat, was im Leben wirklich zählt. Nicht wenigen hat diese Sinnfrage die Bedeutung von Gemeinschaft und Spiritualität vor Augen geführt, und einige Kirchenräume scheinen wieder voller als vor der Pandemie. Oder man hätte von der Spital- oder Flüchtlingsseelsorge ausgehen können, die gerade alle Angestellten- und Freiwilligenhände voll zu tun haben. Aber nein, der Referenzpunkt sollte die Tabula Rasa sein: das gänzliche Fehlen der Kirche. Von dort her wollte man ihre Existenz neu denken.
Kirchenratspräsident Michel Müller verlieh beim Willkommens-Apéro seiner persönlichen Hoffnung Ausdruck, dass die eingeladenen Redner auch konsequent und provokativ von einem völligen Fehlen der Kirche auszugehen vermöchten. Die Referenten für die gedanklichen Impulse waren mit Bedacht gewählt: Die Professoren Eva-Maria Faber, katholische Fundamentaltheologin und Spezialistin für Kirchenreform und Ralph Kunz, reformierter Fachmann für Kirchenentwicklung und Experte für Spiritualität, führten ins Thema ein.
130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer
Rund 130 Kirchen-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier kamen am 11. Mai nach Winterthur, um sich ihre Impulse anzuhören und anschliessend in Kleingruppen mitzudenken. Begegnungsort war das Kirchgemeindezentrum an der Liebestrasse, eines der ältesten Kirchgemeindehäuser der Schweiz – pompös erbaut in einer boomenden Zeit (1912), in der man sich mehr über fehlenden Platz für die wachsenden Kirchgemeinden und ihre Aufgaben Gedanken machte als über deren Aussterben.
Die beiden Co-Organisatoren, Felix Caduff, Synodenpräsident der Katholiken, und Arend Hoyer, reformierter Pfarrer in Thalwil, begrüssten die Teilnehmenden mit einer recht düsteren Bestandesaufnahme. Individualisierung und Säkularisierung führten dazu, dass die Kirche keine tragende Rolle für die Gemeinschaft mehr spiele, sagte Caduff. Die Gegenwart sei für die Kirchen ähnlich herausfordernd wie die Zeit der Klostergründungen oder die Reformation.
Die derzeitige Umbruchphase werde angetrieben durch Social Media und Internet und deren Schnelllebigkeit würde das Profane, Banale, Oberflächliche begünstigen: «Besinnung und Tiefgang haben in diesem Umfeld einen schweren Stand», gab Caduff provokant zu bedenken. Arend Hoyer stellte fest, dass es immer mehr Menschen ohne Kirche an nichts fehle: «Weder an Weihnachten, noch am Lebensende, noch in einer Krise, noch im Spital oder Gefängnis.» Das bereite ihm keine Freude, aber es gelte zu lernen, dieser Entwicklung zu begegnen. Und dazu sei man heute da.
Tradition, Beziehungen, Sinn
Die erste Referentin, Eva-Maria Faber, sammelt als Fundamentaltheologin Argumente, um Aussenstehende vom Nutzen der Kirche zu überzeugen; ihr Metier ist der Dialog über die Grundlagen (Fundamente) der Kirche mit Atheisten und Agnostikern und Angehörigen anderer Religionen. Wenn sie keine Antworten hat, wer dann? Doch Faber hatte und brachte sie mit. Allerdings tat auch sie sich erst einmal schwer damit, allgemeingültig zu definieren, was ohne Kirche fehlt; zuerst müsse man danach fragen, WEM etwas fehle. «Mir, der Welt, der Gesellschaft?» Denn: Die Kirchen könnten nicht einfach für andere behaupten, dass ihnen etwas fehle: «Weder Nächstenliebe, noch Feste, noch diakonisches Engagement, noch die Suche nach Sinn.»
Ergo könne man die gestellte Frage nur für sich persönlich beantworten und in der Variation: «Würde ich etwas vermissen, wenn die Kirche fehlt?» Und dann dieses Etwas zu beschreiben versuchen. In Fabers Fall lauten dafür gefundene Begriffe: Traditionsgemeinschaft, Stütze für Gottesbeziehung, Beziehungsnetz, Nachdenklichkeit, Reichtum an spirituellen Wegen, Sinnsuche, Trägerin von Lebensentwürfen, Resilienz, Ressourcenorientierung. Am Ende kommt dann auf sechs Folien einiges zusammen, was Professorin Faber fehlen würde, wenn es die Kirche nicht (mehr) gäbe.
Zum Beispiel sieht sie die Kirche als «Anwältin der grossen Lebensthemen, die sich traut, sich auch der dunklen Seiten des Lebens anzunehmen.» Dann, wenn sich eine Leere auftut, kann sie in die Lücke springen, zur «Quelle des Zusammenhalts» werden, zum «Wurzelboden für Solidarität». Und mit Blick auf die Feiertage spricht sie von einem «Verlust der Festlichkeit»: Die Ostereier in den Verkaufsregalen ohne das Wunder von Ostern seien wie «Tanzenwollen ohne Musik». Fazit: Es ist besser, wenn die Kirche die Leere füllt, als wenn sie selbst die Leere repräsentiert.
«Zu Gott, zur Quelle des Lebens»
Auch der Spiritualitätsforscher Ralph Kunz wählte einen sehr persönlichen Zugang zur vorgegebenen Fragestellung und berichtete von seinen Erfahrungen mit den «Brothers and Sisters», seinen «Geschwistern in Christus» in einer Pfingstgemeinde in Los Angeles. Was er vermissen würde wäre dieses Gefühl, «Fascht e Familie» zu sein; die Verbindungen in die Horizontale und gemeinsame Vertikale. Seinen Hauskreis, die Gemeinschaft, die sich versammelt, «um das Abendmahl, um Gott zu geniessen».
Kunz wandte sich gegen die verbreitete Sprachlosigkeit: «Wenn wir nicht mehr sagen können, was uns fehlt, wenn uns Gott fehlt, sagt uns Kirche nichts mehr.» In seiner pointierten Art forderte Kunz ein Zurück zu den Ursprüngen der Kirche: «zu Gott, zur Quelle des Lebens». «Wir können nichts ohne ihn.» Das was uns fehle sei dieses Gegenüber, das Du das uns nicht loslasse. Kunz legt ein eigentliches Bekenntnis ab: «Ich sage ja zu Gott und nein zu einer gottlosen Welt.»
Und was fehlt, wenn Kirche fehlt? Ja, die Kirche natürlich! In ihrer ursprünglichen Form. Kunz verweist auf die Entstehung der byzantinischen Kathedralen vor 1200 Jahren und die Herkunft des Wortes Kirche; von «kyria-kon», ursprünglich ein dem Herrn gehörendes Haus bezeichnend. Die Kirche ist das, was Gott gehört. Und wenn die Kirche fehlt, verliert Gott die Seinen. Nicht nur das Haus, in das sie einkehren. Deshalb, so Kunz, gälte es, an der Fragestellung zu schräubeln und zu fragen: «Wer fehlt Gott, wenn Kirche fehlt?»
Ort und Weg der Gottsuche
Das Durchschnittsalter jener, die über die Zukunft der Kirche diskutierten, war hoch, darum war es interessant, die persönliche Antwort des jüngsten reformierten Synodalrats einzufangen. Sie stammt von Tobias Adam (24). Der Theologiestudent, der im Zürcher Stadtkloster wohnt und arbeitet, sagt: «Wenn Kirche fehlt, würde für mich ein Ort fehlen, an dem unterschiedlichste Menschen gemeinsam unterwegs sein können, um Gott zu suchen. Auch würde ein Ort fehlen, an dem wir aus der christlichen Tradition schöpfend, die Welt anders denken als sie ist.» Kirche als Ort und Weg der Gottsuche – dieses Stichwort fällt so oder ähnlich an diesem Begegnungsabend einige Male.
Was so schnell nicht fehlen wird, ist die den meisten Menschen angeborene, innewohnende Sehnsucht nach dem Transzendenten, Numinosen, Göttlichen, wie sie selbst beim Atheisten Martin Walser zum Ausdruck kommt. Wenn die Kirche fehlt, fehlt es auch an Lehrmeisterinnen, Vorbildern oder Wegweisenden, wie man diesem Sehnen folgen könnte. An jenen, die die alten, tradierten Wege zu Glück und Seligkeit hochhalten, predigen und preisen. «Selig sind die die hungern und dürsten, ... selig sind die Friedensstifter usw.» Glückselig sind die, die eine Kirche haben.
Christian Kaiser, reformiert.info
«Kirche als Raum für Gottsuche, Gemeinschaft und Nachdenklichkeit»