Regine Kokontis, was hat Sie dazu bewogen, für das Amt der Kirchenratspräsidentin zu kandidieren?
Es fühlte sich wie der natürliche nächste Schritt in meinem beruflichen Leben an. Ich bin Mentorin einer Laienpredigerin. Sie war es, die mich dazu aufgefordert hat, mich zu bewerben – knappe zwei Wochen vor Bewerbungsschluss! Ich wurde vor zehn Jahren schon einmal für den Kirchenrat angefragt. Damals sagte ich Nein, denn ich war noch nicht so weit. Das ist jetzt anders. Es fühlt sich richtig an und überhaupt nicht wie einen Riesenschritt.
Dennoch ist es mutig. Die Kirchgemeinden stehen vor grossen Herausforderungen.
Absolut. Vor allem der Rückgang an finanziellen Mitteln in den Gemeinden. Das schränkt die Freiheit ein. Da läuft man schnell Gefahr, trotzig zu werden oder sarkastisch. Aber wir haben als Kirche den schönen Auftrag, Möglichkeiten zu erkennen auch mit weniger Geld. Wir sind immer noch Menschen mit Kapazitäten und Begabungen. Mein Ziel ist es, die Gemeinden so zu begleiten, dass wir uns dessen bewusst bleiben und nicht in ein Lamento verfallen.
Wie wirken Sie diesem Lamento entgegen?
Was ich aus meiner Arbeit im Pfarramt mitnehme, ist, dass immer wieder ganz viel möglich ist. Es fehlen immer Personen oder Infrastrukturen, deshalb ist es umso wichtiger, den Blick auf das zu legen, was schon da ist. Und dann fängt man mal mit dem ersten Schritt an. Solange Bereitschaft und Engagement da sind, kann etwas richtig Tolles entstehen. Und manchmal reicht die Kraft dann eben nicht mehr – dann hört man eben wieder auf.
Ist doch ärgerlich, Projekte immer wieder beenden zu müssen, nur weil vielleicht eine Person ausfällt.
Für mich ist das ein Teil vom Glauben. Ich weiss, ich bin nicht die Einzige – wir als Gemeinde sind nicht die Einzigen. Da ist die Aussage hilfreich, dass wir gemacht haben, was wir konnten, nun jemand anderes an der Reihe ist. Wir leben nicht ewig und können alle nur einen Teil beitragen.
Sie haben gesagt, die Kirche habe einen Auftrag. Wie sieht dieser aus?
Kirche ohne Diakonie, das geht für mich nicht. Wir müssen den Blick behalten auf diejenigen, die nicht gehört werden. Das ist das Geniale an den Kirchgemeinden: Da gibt es Leute, die durch ihre Anstellung sozusagen freigestellt sind, um den Mitmenschen zuzuhören. Unsere Gesellschaft wird zunehmend polarisiert, es braucht Räume, wo noch diskutiert werden kann. Das Leben ist viel wahrer, wenn wir uns die Zeit nehmen, zu spüren, dass es oft keine einfachen Antworten gibt. Im Leben geht es nicht einfach um Realität, sondern um Wirklichkeit.
Sind Realität und Wirklichkeit nicht das Gleiche?
Ich finde das deutsche Wort «Wirklichkeit» wunderschön. Wirklichkeit bedeutet etwas, was wirksam ist. Wenn ich mit einem Menschen zu tun habe, der eine Psychose hat, hilft es nicht, ihm zu sagen, er spinne. Wenn etwas für ihn Wirklichkeit ist, dann wirkt die für ihn und fühlt sich echt an.
Und das lässt sich auch auf den kirchlichen Kontext übertragen.
Natürlich. Auch religiöse Geschichten haben – wie alle Geschichten – eine Wirkung. Wir können sie nutzen, um unsere Resilienz zu stärken und einen Umgang mit Ambivalenz zu finden. Es sind ethische Fragen, durch die wir Ambivalenz erfahren. Über die müssen wir diskutieren – und wir dürfen nie aufhören zu diskutieren. Diese Diskussionen müssen wir aushalten. Dabei hilft das Konzept Gott.
Konzept?
Das germanische Wort «Gott» heisst nichts weiter als «das Anrufbare». In erster Linie ist G-o-t-t also einfach ein Wort, das für uns mit Bedeutung gefüllt wird und das wir mit Bedeutung füllen. Wenn man zum Beispiel für sich entscheidet, dass Gott gut ist, dann fällt man nicht aus dieser Güte raus. Ob er ein personelles Gegenüber ist, das weiss ich nicht. Wenn ich mir dieses Wissen anmasste, würde ich Gott klein machen.
Öffnen Sie damit auch die Tür für den interreligiösen Dialog?
Unbedingt. Ich feierte einmal mit einer Muslima Gottesdienst. Ihr war es wichtig, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Allah, erklärte sie, sei nichts weiter als das arabische Wort für Gott. Und sie hatte recht: sonst dürften auch Franzosen das Unservater nicht mehr beten – die sagen schliesslich auch nicht «Gott»! Ich freue mich, auch als Kirchenratspräsidentin mitzuwirken, dass Räume für ehrliche, herausfordernde und versöhnende Begegnungen offen bleiben und genutzt werden – zur Stärkung der Demokratie und zum Wohl der gesamten Gesellschaft.
«Kirche muss Raum bieten zum Diskutieren»