«... Aber es ströme wie Wasser das Recht, und die Gerechtigkeit wie ein unversieglicher Bach.»
Amos 5, 24. Zürcher Bibel 1980
Das Wort «Politik» kommt in der Bibel nicht vor. Soll ich daraus schliessen, dass fromme Leute sich aus dem heraushalten sollten, was wir heute «Politik» nennen? Nein. Denn auch Wörter, von denen man selbstverständlich annimmt, sie gehörten zum Kerngeschäft der Kirchen, kommen in der Bibel nicht vor: «Ethik» zum Beispiel, oder «Moral» oder «Religion».
Dass mir in biblischen Texten eine andere Sprache entgegenkommt als diejenige, die wir heute sprechen, ist manchmal lästig: Wie, zum Beispiel, soll ich mir die altmodischen Wörter «Sünde» oder «Frohlocken» in meinen Alltag hinein übersetzen? Was bedeutet es, dass Luther und Zwingli «Haus» oder «Geschlecht» sagen, wo wir heute eher von «Familie» sprechen? Ganz abgesehen davon, dass auch die alten Wörter aus der Reformationszeit Übersetzungen aus dem Hebräischen oder Griechischen sind? Und wie soll ich denn nun wissen, ob die Menschen aus biblischer Zeit sich für «politische» Fragen interessiert und engagiert haben, wenn sie das Wort nicht brauchten?
Für eine menschlichere Welt
Die Distanz zwischen biblischer und heutiger Sprache hat aber auch Vorteile. Denn sie bringt mich dazu, mit anderen Wörtern zu umschreiben, was ich meine, wenn ich «Politik» sage. Geht es da um die Debatten im Nationalrat, um Parteiprogramme, Wahl- und Machtkämpfe? Geht es um die UNO, die NATO, die «Bilateralen»? All das kommt noch viel weniger in der Bibel vor.
Ich muss also einen Schritt zurücktreten und mich fragen: Worum geht es denn letztlich in Nationalratsdebatten oder bei der Klimakonferenz in Paris? – Um Macht, um Einfluss? Nein. Im Kern geht es bei aller Politik um die gute Gestaltung unserer gemeinsamen Welt, in Washington genauso wie in Wattwil, Betlehem oder Korinth. Das zum Beispiel könnten wir Frommen den Leuten, die sich «Politikerinnen» und «Politiker» nennen, wieder einmal deutlich sagen: Ob eure Partei die Wahl gewinnt, ist zweitrangig. Im Kern geht es in der Politik um etwas Anderes, nämlich darum, dass wir alle gemeinsam die Welt menschen- und weltfreundlich einrichten.
Der unversiegbare Bach
Und mit dieser Umschreibung der politischen Aufgabe wären wir dann wieder ganz nah bei der Bibel. Was, zum Beispiel, ist mit den Zehn Geboten gemeint? Geht es da nicht um eine Anleitung zur menschenfreundlichen Gestaltung unserer Welt? Und warum sollte Jesus meinen, dass «der Sabbat um des Menschen willen und nicht der Mensch um des Sabbat willen geschaffen ist», wenn es ihm nicht um unser aller Wohlsein ginge?
Für mich drückt der Prophet Amos sehr gut aus, wie sich GOTT selbst unser Zusammenleben vorstellt: nicht als eine Ansammlung von Schubladen, in die wir uns stecken, je nachdem ob wir gerade in der Kirche, zu Hause oder im Gemeinderat sitzen, ob wir gerade die Bibel, die Zeitung oder einen Liebesroman lesen. GOTT stellt sich unser menschliches Zusammenleben so vor: als einen einzigen Strom aus Liebe, Recht und Gerechtigkeit. Spielt es da noch eine Rolle, ob ich mein begeistertes Mittun in dieser einen grossen Bewegung «Politik» oder «Privatleben» oder «Religion» oder sonstwie nenne?
Text: Ina Praetorius, Wattwil | Bild: Lika Nüssli, St.Gallen – Kirchenbote SG, Januar 2016
Kirche, Politik und Bibel