Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Kirche und Staat: Beziehungsstatus «liiert»

min
02.12.2019
Der Kanton Thurgau war einer der ersten in der Schweiz, der vor 150 Jahren die evangelische und die katholische Landeskirche anerkannten. Damit legte man die Basis für das friedliche Zusammenleben der Konfessionen, die das Jubiläum nun gemeinsam feiern. Der Auftakt fand mit über 250 Gästen am Sonntag in der Kartause Ittingen statt.

Die Kantonsverfassung von 1896 schuf im Kanton Thurgau die Ausgangslage für die Selbstbestimmung der Landeskirchen. Sie legte damit die Basis für den religiösen Frieden und sorgte für ein gutes Einvernehmen zwischen Staat und Kirche. Dieses solle dem Wohl der ganzen Bevölkerung in Stadt und Land dienen, schreiben die Thurgauer Kirchen in ihrer Medienmitteilung.

In der Kartause Ittingen diskutierten der reformierte Kirchenratspräsident Wilfried Bührer, der katholische Kirchenratspräsident Cyrill Bischof und Jakob Stark, Thurgauer Ständerat und Regierungspräsident. Neben dem Blick zurück und auf die Gegenwart schauten die Gäste auch in die Zukunft. «Auf Facebook könnte man den Beziehungsstatus zwischen Staat und Kirche auf ‚liiert’ setzen», eröffnete Moderator Stöff Sutter das Gespräch. «Der Staat ist auf gesellschaftliche Akteure angewiesen, die ihn ergänzen», betonte Cyrill Bischof. Jakob Stark sieht es als gemeinsamen Auftrag, Werte zu vermitteln und Menschen in ihrer individuellen Art abzuholen. Man könne Megatrends wie Individualisierung, Entsolidarisierung und Konsumorientierung nicht stoppen oder ins Gegenteil umkehren, sagte Wilfried Bührer und fügte an: «In unsrer multikulturellen Schweiz braucht es ein Zeichen, das von allen sofort als christliches Zeichen erkannt wird. Nicht die konfessionellen Besonderheiten sollen im Vordergrund stehen, sondern das verbindende Kreuz.»

 

Interview

Damit die Kirche im Dorf bleibt

Herr Regierungsrat Schönholzer, das Regierungsbild 2019 zeigt die Thurgauer Regierung auf dem Nollen neben dem Gipfelkreuz. Zufall oder Absicht?
Walter Schönholzer: Absicht. Das Regierungspräsidium hat das Privileg, das Sujet zu bestimmen. Regierungspräsident Jakob Stark hatte nun die Idee, dass sich die Regierung für das Foto auf «der Rigi des Thurgaus», dem Nollen, aufstellt. Man kann vom Nollen aus praktisch das ganze Kantonsgebiet überblicken und das Kreuz symbolisiert Werte, die der Regierung wichtig sind.
Wilfried Bührer: Es freut mich, dass die Regierung zu den Wurzeln unseres Kantons steht.
Cyrill Bischof: Genau. Unsere Gesellschaft beruht auf Werten der antiken griechischen Kultur, des Christentums und der Aufklärung. 

Wie ist die Zusammenarbeit zwischen dem Kanton und den Landeskirchen?
Walter Schönholzer: Wir dürfen eine sehr gute Zusammenarbeit pflegen. Die Kirche spielt eine wichtige Rolle. Sie unterstützt den Staat.
Cyrill Bischof: Die gute Zusammenarbeit ist auch Ausdruck des Bewusstseins, dass Politik und Kirche gemeinsam für eine funktionierende Gesellschaft Verantwortung wahrnehmen müssen.

Nach 150 Jahren: Nehmen die kantonalen Landeskirchen und die Kirchgemeinden auch eine kulturhistorische Verantwortung wahr?
Wilfried Bührer: Es gibt keine anderen Institutionen, die so viele denkmalwürdige Bauten haben wie die beiden Landeskirchen. Die gegenwärtige Art der Finanzierung ist optimal: Die Kirchen dürfen als öffentlich-rechtliche Körperschaft Steuern einziehen – ein Privileg, aber eine Verpflichtung zugleich. Sie pflegen die Bauten und erhalten dadurch wertvolles Kulturgut.
Cyrill Bischof: Es ist wortwörtlich wichtig, dass die Kirche im Dorf bleibt. Sie ist nicht nur ein religiöser Ort.
Walter Schönholzer: Deshalb hat sich der Regierungsrat auch immer konsequent gegen die Abschaffung der Kirchensteuern juristischer Personen gewehrt. Auch in der aktuellen Steuerreform haben wir die Verantwortung der Kirchgemeinden finanziell berücksichtigt und die zu erwartenden Steuerausfälle um eine Million Franken gemildert.
Cyrill Bischof: Wenn ich jemanden treffe, der aus der Kirche austreten will, mache ich ihn darauf aufmerksam, dass es ja nicht nur um die Frage der persönlichen Spiritualität geht. Es ist auch ein Akt der Solidarität, wenn ich «Ja» sage zur Kirchensteuer – mit grosser Breitenwirkung: kulturell, sozial und als Beitrag, um friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.

Was kann und soll die Kirche der Zukunft überhaupt leisten? Und was kann der Kanton dazu beitragen?
Wilfried Bührer: Unsere «Standardangebote» werden nach wie vor dazu gehören. Ich konnte einen Blick in die anglikanische Kirche in England werfen. Ich bin überzeugt, dass wir uns weiterentwickeln können und müssen. Ich habe festgestellt, dass in England trotz dem extremen Mitgliederschwund immer noch hohe Erwartungen an die Landeskirche gerichtet werden und dass erfolgreich neue Wege eingeschlagen wurden.
Walter Schönholzer: Man könnte zum Beispiel Leistungsaufträge oder finanzielle Abgeltungen diskutieren. Wenn der Staat aufhört, gemeinsam mit den Kirchen die Werte hochzuhalten, verludert unsere Gesellschaft.
Wilfried Bührer: Wir merken, dass das heutige System nicht mehr das einzig richtige sein muss. Wir müssen kirchliche Aufbrüche fördern, die nicht aus den bestehenden Strukturen herauswachsen. Wir werden deshalb eine neue Stelle schaffen, die Experimente in neuen Feldern ermöglicht.
Walter Schönholzer: Das passt! Genau dort, wo der Staat mit seiner Verantwortung nicht mehr zuständig ist, können die Kirchen einsetzen.

Braucht es denn überhaupt so viele verschiedene christliche Kirchen?
Cyrill Bischof: Ich wäre sofort dafür, noch viel intensiver zusammenzuspannen. Das gemeinsame Grundanliegen der Botschaft von Jesus Christus soll ins Zentrum rücken. Die grossen theologischen Fragen müssen wir dabei nicht im Thurgau lösen – wir können uns aber so einrichten, dass sie nicht mehr diese trennende Rolle spielen.

Da stellt sich natürlich die Frage, wie die Landeskirchen mit anderen Religionen umgehen.
Cyrill Bischof: Da plädiere ich für Offenheit. Wir sind nicht stark, wenn wir Mauern bauen, sondern wenn wir uns unsrer eigenen Wurzeln bewusst sind und diese pflegen.
Wilfried Bührer: Was den Umgang mit Andersgläubigen betrifft, gibt es zwei Ebenen: Erstens ist es biblisch legitim, wenn man eine besondere Solidarität mit Glaubensgeschwistern pflegt. Zweitens hat uns Jesus aber auch gelehrt, allen Menschen, gerade auch Fremden und sogar Feinden, in einer liebevollen Haltung zu begegnen.
Cyrill Bischof: Diese traditionellen Werte dürfen wir keinesfalls über Bord werfen, denn sie geben uns Orientierung beim Bewältigen der neuen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Walter Schönholzer: Die Gefahr von Konfrontationen besteht natürlich. Ich sehe es als Aufgabe des Staates, unsere christlichen Grundwerte zu verteidigen und gleichzeitig andere Religionen zu akzeptieren. Denn unsere freiheitlich liberale Gesellschaft beruht auf christlichen Grundwerten. Ich halte deshalb nichts davon, einerseits muslimische Feiertage einzuführen; andererseits lehne ich Bestrebungen ab, christliche Feiertage abzuschaffen.

Herr Schönholzer, wie kommt es dazu, dass Sie als Volkswirtschaftsdirektor für die Kirchen zuständig sind?
Walter Schönholzer: Mein Departement für Inneres und Volkswirtschaft ist für den Verkehr mit den Gemeinden verantwortlich, da gehören die Kirchgemeinden dazu.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Thurgau kennt ein weiteres Kuriosum.
Walter Schönholzer: Der für kirchliche Angelegenheiten zuständige Regierungsrat darf bei der katholischen Kirche bei der Bischofswahl mitreden. So kommt es also zum weltweiten Kuriosum, dass ich als Protestant bei der Wahl des Bischofs des Bistums Basel mitreden kann. Aber keine Angst: Dank guter Beziehungen und ähnlichen Wertvorstellungen kriegen wir auch das hin!

Lesen Sie das ungekürzte Interview hier

Interview: Roman Salzmann, kirchenbote-online, 2. Dezember 2019

Unsere Empfehlungen

Die Moral erobert die Politik

Die Moral erobert die Politik

Die Klimadebatte sei moralisch und religiös aufgeladen. Dies führe zu Unversöhnlichkeit, sagt der Publizist Felix E. Müller. Statt vom Weltuntergang zu reden, müsse die Politik den pragma­tischen Kompromiss suchen.
Die Moral erobert die Politik (1)

Die Moral erobert die Politik (1)

Die Klimadebatte sei moralisch und religiös aufgeladen. Dies führe zu Unversöhnlichkeit, sagt der Publizist Felix E. Müller. Statt vom Weltuntergang zu reden, müsse die Politik wieder den pragmatischen Kompromiss suchen.