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Mitgliederschwund

Kirchenaustritte: Schmerzhafte Bilanz

von Heimito Nollé / ref.ch
min
25.04.2024
Die Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche hat auch Folgen für die Reformierten: Nie zuvor sind so viele Mitglieder ausgetreten wie im vergangenen Jahr. Aber es gibt Unterschiede, wie die definitiven Zahlen 2023 zeigen.

Eigentlich sah es für die reformierte Kirche im Kanton Luzern bis Mitte 2023 gar nicht so schlecht aus: Zwar waren die Mitgliederzahlen weiter rückläufig, dennoch verzeichnete man insgesamt weniger Austritte als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Aber dann kam der September – der Monat, in dem die Universität Zürich ihre Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche publizierte. «Ab September schossen die Austrittszahlen in die Höhe, in den nächsten drei Monaten mussten wir hunderte von Austritten hinnehmen», sagt Michi Zimmermann, Fachbereichsverantwortlicher Kommunikation der Luzerner Kirche.

Insgesamt 1356 Luzernerinnen und Luzerner haben im vergangenen Jahr der reformierten Kirche den Rücken gekehrt – eine Steigerung von satten 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr. «Das trifft uns sehr bei 37'500 Mitgliedern. Wir sind mit neuen Angeboten wie beispielsweise der Chat-Seelsorge daran, unsere Kontakte zu fördern», sagt Zimmermann.

Die Grafik zeigt die prozentuale Zunahme der Kirchenaustritte 2023 im Vergleich zum Vorjahr. | Grafik: ref.ch

Die Grafik zeigt die prozentuale Zunahme der Kirchenaustritte 2023 im Vergleich zum Vorjahr. | Grafik: ref.ch

Klarer Zusammenhang

Die Luzerner Reformierten sind damit keine Ausnahme – die Missbrauchsstudie hat auch die anderen reformierten Kantonalkirchen empfindlich getroffen, wie eine Umfrage von ref.ch zu den Austrittszahlen 2023 zeigt. Durchgehend alle befragten Landeskirchen mussten im vergangenen Jahr mehr Austritte hinnehmen als im Vorjahr.

Einen klaren Zusammenhang zwischen Studienpublikation und Austritten sieht Simona Starzynski, Kommunikationsverantwortliche der Zuger Kirche. Diese verzeichnete 2023 rund 22 Prozent mehr Austritte als im Vorjahr. «Dabei fällt auf, dass wir im September dreimal so viele und im Oktober doppelt so viele Austritte wie sonst hatten», sagt Starzynski.

Ähnlich klingt es bei den Berner Kirchen (Refbejuso): «Wir gehen davon aus, dass es nach der Präsentation der Pilotstudie zumindest vorübergehend einen Boost gegeben hat. Darum ist die Zahl der Austritte signifikant höher als im Vorjahr», sagt der Kommunikationsverantwortliche Markus Dütschler auf Anfrage.

 

Mehr Eintritte

Nachdem die katholische Missbrauchsstudie publiziert worden war, nahmen die Eintritte in die reformierte Kirche zu, wenn auch auf tiefem Niveau. Refbejuso zum Beispiel verzeichnete im vergangenen Jahr 410 Eintritte gegenüber 310 im Vorjahr. Bei rund 150 Personen handelte es sich um Übertritte aus einer anderen Landeskirche. Dazu heisst es: «Man darf annehmen, dass es sich dabei grösstenteils um Menschen handelt, die nicht mehr der römisch-katholischen Kirche angehören wollen, jedoch nicht grundsätzlich eine Konfessionszugehörigkeit ablehnen.»

Ähnliches berichtet die Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Landschaft. Dort traten 142 Personen gegenüber 118 im Vorjahr ein. Dies habe teilweise auch mit der Missbrauchsstudie zu tun, heisst es auf Anfrage. «Über unsere Online-Eintrittsseite haben wir seit September einen Anstieg verzeichnet und vermehrt Eintritts-Anfragen erhalten, die explizit als Übertritte deklariert waren.» (no)

 

Austretende gaben keinen Grund an

Dennoch gibt es zwischen den einzelnen Kantonalkirchen Unterschiede. Während die Austritte in einigen Landeskirchen gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent und mehr zunahmen, kamen andere glimpflicher davon. In der Aargauer Landeskirche hatte die Missbrauchsstudie laut Sprecherin Claudia Daniel-Siebenmann nur einen geringen Einfluss auf die Austrittszahlen. Vielmehr fügten sich die aktuellen Zahlen in einen Trend. «Wir hatten zwar im Oktober einen starken Anstieg, das war aber bereits in den Vorjahren so», sagt sie.

Daniel-Siebenmann weist allerdings auf ein generelles Problem bei der Interpretation der Zahlen hin: Nur die wenigsten Austretenden begründen ihren Entscheid. «Meistens wurden in den Austrittsschreiben überhaupt keine Gründe angegeben, und nur in einem einzigen uns vorliegenden Fall wurde die Missbrauchsstudie als Grund genannt», sagt sie.

Aufarbeitung steht noch bevor

Das bestätigt auch Stephanie Krieger, Kommunikationsverantwortliche der Baselbieter Kirche. Zusammen mit Luzern und Graubünden gehört Basel-Landschaft zu den Kirchen, die verglichen mit dem Vorjahr prozentual die grösste Zunahme von Austritten verzeichneten. Die Gründe dafür seien wahrscheinlich vielfältig, betont Krieger. Dennoch glaubt sie, dass die Missbrauchsstudie kurzfristig einen Einfluss hatte. «Es war auffällig, wie viele Austrittsschreiben uns im September aus den Kirchgemeinden erreicht haben.»

Wie viele Mitglieder es nun genau waren, die aufgrund der katholischen Missbrauchsstudie die reformierte Kirche verlassen haben, ist wohl kaum zu beziffern. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass die Studie auch bei den Reformierten empfindlich zu Buche schlug: 2023 traten insgesamt deutlich mehr Mitglieder aus als jemals zuvor. Dabei steht den Reformierten die Aufarbeitung der eigenen Missbrauchsfälle erst noch bevor.

Dieser Artikel erschien am 17. April 2024 auf ref.ch.

 

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