Kitsch: «Zu viel Zucker verdirbt den Magen»
Mit dem Advent beginnt die grosse Zeit der Geschichten. Die Buchhandlungen sind voll mit neuen und klassischen Weihnachtserzählungen. Und in vielen Familien liest man bis heute an Heiligabend die Weihnachtgeschichte nach dem Lukasevangelium. Dieses «Original» ist auch die Lieblingsgeschichte von Pfarrer Martin Dürr, «immer noch und immer wieder neu», wie er betont. Die Erzählung sei so kraftvoll und dicht, dass sie nicht modernisiert werden müsse. Dürr, Co-Leiter des Pfarramts für Industrie und Wirtschaft, liest zum 1. Advent seine liebsten Weihnachtsgeschichten in der Stadtbibliothek Basel vor.
Den Zuhörerinnen und Zuhörern eröffnen die Geschichten andere Welten. Martin Dürr kann sich gut vorstellen, dass man einander nicht nur während der Weihnachtszeit Geschichten vorliest. Durch all die technischen Möglichkeiten seien die Leute im Alltag oft ungeduldig und leicht ablenkbar. Er spürt das bei sich selber. «Wenn ich dann jemanden live vorlesen höre, bin ich ganz anders dabei als bei stets abspielbaren Medien oder Streams.» Gelernt hat Martin Dürr das Geschichtenerzählen als Vater, der seinen Kindern vorlas. Für Kinder, findet der Pfarrer, eignen sich Geschichten, die ihnen etwas bedeuten, die altersgerecht und verständlich sind. Das Vorlesen schaffe «einen Raum, in dem es hell und leicht wird, in dem überraschende Fragen und neue Antworten möglich sind».
Für Dürr sind Weihnachtsgeschichten voller Licht im Dunkel der Jahreszeit. «Auch für Menschen, die sonst nicht viel mit Religion am Hut haben, sind es hoffnungsvolle Geschichten.» Um den süssen Weihnachtskitsch, den viele Texte verbreiten, macht Martin Dürr aber einen grossen Bogen. «Zu viel Zucker verdirbt den Magen. Etwas Gegensteuer zum riesigen Kommerz schadet nicht», meint er und erinnert daran, wie viel Skandalöses und Revolutionäres in dieser Weihnachtszeit steckt.
Es braucht auch freche Texte
Darum brauche er manchmal frechere und ungewöhnliche Texte. In Dürrs Lesung kommen neben dem Christkind sprechende Esel und neurotische Weihnachtsmänner vor. «Das Schwierigste scheint mir heute, bei dem unübersehbaren Angebot die wirklich guten Geschichten zu finden», so der Pfarrer.
Viele Erwachsene verbinden Weihnachten mit Kindheitserinnerungen. So auch Martin Dürr. Zu seinen schönsten Weihnachtserlebnissen gehören «das Warten auf den Moment, in dem die verschlossene Stube geöffnet wurde und wir hinein durften, die Kerzen, die am Baum brannten, verheissungsvolle Päckli, die darunter lagen, und das offene Fenster, aus dem das Christkind soeben verschwunden war». Die eindrücklichen Weihnachtserlebnisse beschränken sich aber nicht auf die Kindheit. Als Pfarrer sind es die Weihnachtsgottesdienste im Gefängnis, die Dürr besonders in Erinnerung bleiben.
Karin Müller, November 2019
Kitsch: «Zu viel Zucker verdirbt den Magen»