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Jubiläum 1300 Jahre

Klosterinsel Reichenau: Frühmittelalterliches Zentrum des Literaturexports

von Christian Kaiser / reformiert.info
min
12.11.2024
Die Bodensee-Insel Reichenau wurde vor 1300 Jahren zur Klosterinsel. Schnell entwickelte sie sich zu einem geistigen und wirtschaftlichen Zentrum Europas. Diese Bedeutung hält bis heute an. Reichenau und die dort gefertigten kostbaren Handschriften gehören zum Unesco-Welterbe.

Im Jahr 724 Jahren soll der Wanderbischof Pirmin auf seinem Weg aus dem westlichen Frankenreich an den Bodensee gekommen sein. Sichtlich beeindruckt habe er dann auf der grössten seiner Inseln das Kloster Mittelzell gegründet: «Dort, wo der Rhein von den Höhen der Alpen herabfliesst, weitet er sich gegen Westen und wird zum gewaltigen Meer. Mitten in dieses Meeres Fluten erhebt sich die Insel ... sie bringt hervor der Mönche treffliche Scharen. Erstmals baute auf ihr ein Kloster der heilige Bischof Pirmin und hütete dort drei Jahre hindurch seine Schafe.»

Geschrieben hat das rund ein Jahrhundert später ein anderer trefflicher Mönch der Reichenau: Walahfrid Strabo (807– 849), erst Schüler, dann Mönch und schliesslich bis zu seinem Tod Abt auf der Reichenau. Er war auch einer der berühmtesten Gelehrten auf der Klosterinsel. Kenner nennen ihn auch den «ersten bedeutenden Dichter im deutschsprachigen Raum».

1200-jährige Kirchenkritik

Bereits als 18-Jähriger Mönch fasste er die Jenseits-Vision seines Lehrers Wetti in gekonnte Verse. Um 825 prangert er darin die Prasserei und Gier eines Teils des Klerus an:

«Ein beträchtlicher Teil der Geistlichen, sagte der Engel, / Strebt nach irdischem Hab und Gut und hängt daran gierig, / Und sie suchen vergänglichen Lohn in Diensten am Hofe, / Schmücken sich mehr mit feinen Gewändern, statt leuchtendes Vorbild frommen Lebens zu sein, / Die Gänge der üppigen Tafel rühmen sie, vergessen, die Seelen für Gott zu gewinnen, / Fallen und wälzen von Dirnen verführt, sich im Schlamm der Lüste.»

In recht kurzer Zeit hat Walahfrid ein beeindruckend vielseitiges Werk hinterlassen: U.a. eine Liturgie-Geschichte, ein Werk über lateinische Versmasse oder die Schilderung des kaiserlichen Hofes in Aachen, wohin er als Hofdichter berufen wurde. In einem kalten Winter schreibt er im Kloster Fulda in Osthessen eine Art Heimwehgedicht an seine geliebte Reichenau, die er darin «Schwester» und «Muse» nennt.

Walahfrid war es auch, der die berühmten Lebensgeschichten von Gallus und Otmar festhielt; seine Lebensbeschreibungen der beiden irischen Wandermönche, die das Kloster St. Gallen im Abstand von Hundert Jahren begründet und erneuert hatten, prägen das Bild der beiden Heiligen bis heute.

Die Superhelden des Frühmittelalters

Die Klosterinsel Reichenau war schon bald nach seiner Gründung ein frühmittelalterliches Zentrum des Literaturexports und Walahfrid bildete ein wichtiges Rädchen im Getriebe, das die Verbreitung der Heiligenlegenden in Gang brachte. Vom frühen 9. Jahrhundert an entstanden im Inselkloster zahlreiche Texte über die Leben von Heiligen, die in benachbarten Klöstern verehrt wurden, etwa in Zurzach, Schienen oder Einsiedeln.

Die Lebensbeschreibungen von Heiligen waren die Romane des Mittelalters und ihre wundertätigen Helden hatten meist Superkräfte; beim Klostergründer der Reichenau, dem heiligen Pirmin, waren das die Fähigkeit, Schlangen zu vertreiben und aus dem Reichenauer Urwald ein Paradies zu machen, wie es in späteren Heiligenbüchern heisst und auf alten Holzschnitten zu sehen ist.

Eine Insel als Welterbe

Der Heilige Pirmin scheint auch eine Art Profi-Klostergründer gewesen zu sein. Nimmt man alle Legenden zum Mass, waren es mehrere Dutzend verteilt über ganz Europa. Einiges deutet zudem darauf hin, dass er auch aus Spanien oder Irland gekommen sein könnte statt aus dem Frankenland. Auch erwiesen sich sämtliche überlieferten Gründungsurkunden der Reichenau als Fälschungen und bilden seit Jahrhunderten Stoff für Historiker und Kriminologinnen.

Trotz aller Wunder und Legenden, die Pirmins Leben umranken – die Klostergründung auf der Reichenau durch ihn vor 1300 Jahren ist historisch gesichert. Unbestritten ist auch die Bedeutung der Klosterinsel Reichenau als geistigem und weltlichem Zentrum für ganz Europa. Die Insel mit ihren drei uralten Kirchen gilt als einzigartiges Zeugnis der Mönchskultur des Abendlandes. Seit 2000 ist sie deshalb Unesco-Welterbe der Menschheit.

Handelsware Handschriften

Die Abtei hatte reichsweite Bedeutung in karolingischer, ottonischer und salischer Kaiserzeit. Die Benediktiner betrieben hier im Mittelalter eine der wichtigsten Schriftwerkstätten Europas. Eine Auswahl kostbarer Handschriften aus dieser Zeit wurde 2003 ins Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen.

Die kostbaren Rheinauer Schrift-Werke waren schon zu ihrer Entstehung ein Luxusgut; Der Abt der Reichenau wurde direkt vom Papst geweiht und hatte diesem dafür wertvolle Abgaben zu leisten. Wer Abt auf der Insel wurde, musste ums Jahr 1000 als Preis für die Weihe durch den Papst nach Rom neben zwei Schimmeln vor allem begehrte Reichenauer Handschriften abliefern: ein Epistolar, ein Liturgiebuch und eine Sakrament-Handschrift.

 

Eine der wertvollsten Reichenauer Handschriften: Majestas Domini, Gero-Codex,
Kloster Reichenau, vor 969 | zvg Archäologisches Landesmuseum Konstanz

 

Hort des Wissens und der Wissenschaft

Das Kloster Reichenau besass im Frühmittelalter zudem eine der umfangreichsten Bibliotheken im Reich, an der Klosterschule wurden Adlige ausgebildet und Wissenschaften wie Mathematik und Astronomie betrieben. Sprache, Literatur und Dichtung hatten einen hohen Stellenwert. Ein Zeitdokument von grosser historischer Bedeutung ist auch das «Reichenauer Verbrüderungsbuch», das zu Walahfrids Zeit entstand, vielleicht sogar von ihm begonnen wurde.

Es enthält auf 164 Seiten über 38000 Eintragungen von Personen, die mit dem Reichenauer Kloster verbunden waren. Darin verzeichnet sind einerseits die Namen von Ordensangehörigen aus Klöstern, mit welchen die Reichenau in Verbindung stand, andererseits aber auch Gönner und Wohltäter des Klosters wie Adlige, Könige oder Bischöfe.

Ein grosses europäisches Verbrüderungsgebiet

Diese akribische Buchführung zeigt eindrücklich, in welches europäische Beziehungs-Geflecht die Klosterinsel eingebettet war: Vor genau 1200 Jahren, als das Verbrüderungsbuch begonnen wurde, gehörten zur verbundenen Brüdergemeinschaft der Reichenau bereits 50 Klöster in einem riesigen Gebiet. Die Aufzählung beginnt mit St. Gallen, Pfäfers und Disentis, führt weiter über die Alpen nach Müstair, Leno und Nonantola nach Oberitalien, erwähnt sind aber auch Konvente in Bayern, Oberösterreich, Osthessen, Südfrankreich oder in Belgien. Ab dem 10. Jahrhundert erstreckte sich die Verbundenheit der Reichenauer dann auch auf Frauenklöster, z.B. das Zürcher Fraumünster.

Die Idee hinter diesem sonderbaren Verzeichnis: Der namentliche Eintrag in diesem «Buch des Lebens» sollte den Erwähnten den Einzug ins Paradies sichern. Gegenseitige Gebetsunterstützung sollte für das Seelenheil sorgen. Alle, die im karolingischen Reich für die Kirche Verantwortung trugen, sollten ins Gebet eingeschlossen und mit Fürbitten gestärkt werden.

Eine Gebetsverbrüderung für die Ewigkeit

Als Pate hinter dieser Gebetsverbrüderung stand einerseits sicher der Gedenk-Gedanken des «Tut dies zu meinem Gedächtnis» (Lk 22,19) beim Abendmahl, andererseits auch die mittelalterliche Hoffnung, im Jenseits Vergebung und Versöhnung zu erlangen – und das war, so der damalige Glaube, umso wahrscheinlicher, je mehr Geistliche gegenseitig füreinander beteten.

Das Andenken an lebende und verstorbene Brüder und Schwestern erfolgte in Stundengebeten oder Messen, solche Gedenkbücher lagen in Messen auf dem Altar auf. Wie das Ganze liturgisch zu bewerkstelligen war, war im Verbrüderungsbuch genau geregelt. So wurde etwa jeweils am 14. November das Jahresgedächtnis aller einzelnen Verstorbenen mit drei Messen an diesem Tag gefeiert!

«ICH bin im WIR sind verbunden»

Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau ist natürlich ein wahrer Fundus für die Erforschung der Beziehungen der frühmittelalterlichen Klöster untereinander. Der Schatz ist in der Zürcher Zentralbibliothek als «Codex Ms. Rh. hist. 27» archiviert. Zum Kloster-Jubiläum haben Gemeinde und Kirchgemeinde Reichenau die Tradition gemeinsam wieder aufleben lassen.

Unter dem Titel «Kein Mensch ist eine Insel» haben sie dazu aufgerufen, das Band lebendiger Verbundenheit neu zu knüpfen; wer wollte, konnte mit dem Eintrag seines Namens auf der Webseite verbunden-reichenau1300.de bezeugen: «ICH bin im WIR sind verbunden». Bisher haben bei der schönen Jubiläumsaktion fast 20`000 Menschen mitgewirkt.

 

Wie das Gemüse auf die Gemüseinsel kam

Abt Walahfrid Strabo (807–849), gilt als der wichtigste Literat des Mittelalters, sein wohl berühmtestes Werk ist das älteste überlieferte Gedicht über die Gartenkunst. Im «Hortulus» beschreibt Walahfrid in lateinischen Reimen liebevoll sein Gärtchen auf der Reichenau und widmet 24 wichtigen Heilpflanzen und ihren Wirkungen jeweils ein kleines Portrait. Es beginnt mit dem in der Klostermedizin als Allheilmittel geschätzten Salbei, dem Antibiotikum des Mittelalters: «Leuchtend blühet Salbei ganz vorn am Eingang des Gartens, Süss von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken. Manche Gebresten der Menschen zu heilen, erwies er sich nützlich.»

Walahfrid zog in seinem Gärtchen aber nicht nur Heilkräuter sondern auch Nutzpflanzen. Besonders angetan hatten es ihm der Flaschenkürbis und die Honigmelone. Die Benediktiner machten die Reichenau also schon im 9. Jahrhundert zu dem, als was sie heute bekannt ist: eine Gemüseinsel.

In dem frühen Zeugnis des Gartenbaus geht es aber auch um die Zuwendung und Achtsamkeit, die ein Garten braucht, um zu gedeihen. Walahfrid schrieb: «die Sorge dass die fasrigzarten Wurzeln nicht erschlaffen vor Durst / lässt mich Ströme erfrischenden Wassers schleppen / in vielfassenden Krügen / und nur tropfenweise ausgiessen aus den eigenen Händen / – damit nicht in heftigem Schwall allzu reichliche Fluten / verschwemmen die keimenden Saaten»

Nach der Regel Benedikts soll das Kloster so angelegt sein, daß sich alles Notwendige – Wasser, Mühle, Garten usw. – innerhalb des Klosters befindet. »So sind die Mönche nicht genötigt, draußen herumzulaufen, denn das ist für ihre Seelen durchaus nicht zuträglich«. Wie sich das realisieren lässt, zeigen die uralten Klostergartenpläne für die Reichenau und das Kloster St. Gallen.

Verfasser dieser ältesten erhaltenen Pläne für den Gartenbau überhaupt war kein geringerer als: Walahfrid von Strabo. Sein umfangreiches Schaffen verkörpert das benediktinische Ideal «ora et labora et studia» vorbildlich: Bete, arbeite und studiere! Und Walahfrid wirkt munter in die Neuzeit hinein: Beim Reichenauer Münster laden nach seinen Plänen zum Jubiläum frisch angelegte Klostergärten zur Entdeckung ein.

Infos zum Jubiläum und zum Besuch:
www.ausstellung-reichenau.de

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