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Gastbeitrag von Swantje Kammerecker

Kniefrei! Jetzt!

von Swantje Kammerecker
min
30.06.2023
Vorzeigbare Knie – wen interessiert das noch? Denn jede Narbe steht für ein erlebtes Abenteuer, manche kleiner, manche grösser. Ein Gastbeitrag von Swantje Kammerecker.

«Nicht am Schorf zerren, sonst gibt das ein ganz böses Knie!», schimpfte die Lehrerin. Ich sass in der dritten Primarklasse und hatte mal wieder ein aufgeschlagenes Knie. Fand ich nicht der Rede wert. War eben der Preis für ein wildes Kinderleben, wenn man gerne auf Bäume kletterte, auch schon mal über fremde Zäune und Mauern stieg, sich in verlassenen Industriebrachen und auf Baustellen rumtrieb.

Achten eure Eltern denn nicht darauf, dass ihr später noch vorzeigbare Beine habt?

Die Blessuren waren zahlreich, vor allem in der warmen Jahreszeit, wo es nichts Schöneres gab, als sich endlich der langen Beinkleider zu entledigen. Wie sehr erwarteten meine Schwester und ich jeweils den Tag, an dem wir das erste Mal mit Rock oder Shorts, Socken und Sandalen raus durften. Welches Gefühl der Freiheit, sechs Wochen Schulferien mit nackten Knien zu geniessen! Als ich ein Teenie war und einem Schulkollegen davon erzählte, war der erstaunt, dass unsere Eltern das erlaubten: «Achten die denn nicht darauf, dass ihr später noch vorzeigbare Beine habt?»

Jahrzehnte später tragen meine Knie etliche Narben. Die ärgsten Verletzungen habe ich mir als Erwachsene geholt. Ich erinnere den Tag, an dem ich beschloss, niemals mehr ohne lange Hosen wandern zu gehen, nachdem ich übel mit einem Felsen kollidiert war. Einmal bin ich mit dem Velo auf einem steilen Kiesweg gestürzt. Nicht etwa bergab, sondern bergan, weil ich zu langsam war: Ich wollte meinen Begleiter nicht überholen, meine Gangschaltung hakte und ich hing in den Klickpedalen fest. Fiel aufs bereits lädierte Knie… tiefe Fleischwunde. Oder zu Hause: beim Raustragen vom Güselsack gestrauchelt, Kniescheibe geprellt. Im Winter ein Schritt vor die Tür zum Briefkasten, auf der gefrorenen Pfütze ausgerutscht, Knie aufgeschürft.

Seither gehe ich vorsichtiger durchs Leben, die schmerzhaften Episoden haben sich eingebrannt. Die Narben sind wetterfühlig. Kein Spielen mehr mit den Kindern kniend am Boden. Putzen mit Schrubber statt mit Bodenlumpen. Ich war die letzten Jahre selbst im Sommer nur mit langen Hosen draussen unterwegs. Nicht von wegen «vorzeigbare Beine», einfach aus Angst, mich zu verletzen. Es wäre schön anders, aber…

Die frische Luft auf der Haut zu spüren, setzte ungeahnte Glücksgefühle frei.

Dieses Jahr ist es anders. Gestern streifte ich im kurzen Rock mit nackten Beinen durch die Feldwege rund ums Quartier. Die frische Luft auf der Haut zu spüren - auch wenn einige vernarbte Stellen taub sind – setzte ungeahnte Glücksgefühle frei. Was war geschehen? Ich hatte mir mal wieder heftig das Knie angeschlagen, vor ein paar Wochen an der Duschhalterung, blöder geht’s nicht. Als die Wunde verheilt war, kam endlich der lang ersehnte Frühling. Etwas in mir sagte: «Jetzt reichts! Wenn du schon in den eigenen Wänden nicht sicher bist vor Verletzungen, dann raus jetzt, kniefrei!»

Ich spürte dabei ein liebevolles Lächeln auf mir ruhen. Der milde Abendwind fühlte sich an wie ein Streicheln auf der Haut. Ob aufgeschlagene Knie oder verwundete Seelen: Gott lädt uns ein, das Leben immer wieder neu zu wagen und zu spüren. Kommen Sie mit auf einen Spaziergang?

 

Swantje Kammerecker

Swantje Kammerecker ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Kultur, Bildung, Medizin. Daneben schreibt sie Kinderbücher, Kurzgeschichten und Gedichte.

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