Können Hände heilen?
Herr Weiss, mein rechtes Knie schmerzt, können Sie es heilen?
Matthias A. Weiss: Ich kann Sie nicht heilen, sondern Sie auf einen Weg anstos-sen und Ihre Selbstheilungskräfte aktivieren. Dazu muss ich mich in Sie hineinspüren.
Dann werden die Schmerzen vergehen?
Möglicherweise. Ich kann das genauso wenig versprechen, wie auch ein Arzt keine Garantie abgeben kann. Heilen verstehe ich nicht als Methode, sondern als einen Zustand, in dem Genesung möglich wird. Man kann diesen Zustand auch Liebe nennen.
Sie haben als Pfarrer gearbeitet. Heute kümmern Sie sich als Heiler auch um die körperlichen Gebrechen?
Ja, so verstehe ich Jesus, der uns dazu aufruft und uns verheisst, dass wir dies können.
Wie wurden Sie zum Heiler?
Das war nicht geplant. Ich wollte schon immer etwas mit den Händen machen und spürte nach dem Vikariat, dass mir etwas fehlt. Die Arbeit mit Gehörlosen in einem Heim in Belp machte mir bewusst, wie wichtig die Berührung ist und dass es auch andere Kommunikationskanäle gibt als über den Intellekt. Ich machte eine Ausbildung bei Renée Bonanomi, einer heute 88-jährigen Pfarrerstochter, und betrat eine neue Welt. Ich hatte immer gespürt, dass es diese gibt, aber sie blieb für mich bis dato verschlossen. Für mich war diese Entdeckung eine riesige Befreiung. Diese Welt war real, vielleicht sogar realer als unsere Wirklichkeit. Und ich lernte auf diese Welt zu vertrauen.
Sie tauchten in die Welt des Handauflegens ein?
Ja. Die Bibel sagt, dass uns nach der Auffahrt Jesu der Heilige Geist geschenkt wurde. Als Theologe hatte ich bislang versucht, diesen Geist intellektuell zu erfassen. Doch das gelang mir nicht. Beim Handauflegen erlebe ich diesen Geist als Werkzeug. Das ist wunderbar.
War Jesus ein Heiler?
Absolut. Wenn man in den Evangelien all seine Worte wegliesse, dann blieben noch seine Heilungen übrig.
Zurück zu Ihrer Arbeit: Was erwartet mich in den Sitzungen?
Sie berichten mir, was Sie zu mir führt. Ich höre Ihnen zu, öffne mich, bin ganz da und spüre, was Ihnen fehlt und welchen Weg wir gemeinsam gehen können. Manchmal mit Handauflegen, mit Körperübungen oder einer Familienaufstellung. Ich weiss zu Beginn einer Sitzung jeweils nicht, wohin uns dieser Prozess führt. Aufgrund meiner Erfahrungen weiss ich aber, dass es in den meisten Fällen gut wird. Vielleicht sind die Schmerzen weg, vielleicht können Sie besser mit ihnen umgehen. Das Ergebnis ist offen.
Verfügen Sie über übersinnliche Kräfte?
Es sind nicht meine Kräfte, wir haben diese von Gott erhalten. Ich bin lediglich ein Kanal, öffne mich und schiebe in diesem Moment meine Person zur Seite. Jede und jeder verfügt über diese Kräfte und kann sie in einem unterschiedlichen Ausmass anwenden.
Warum wird nicht jeder zum Geistheiler oder zur Geistheilerin?
Die wenigsten sind sich bewusst, dass sie diese Energien weitergeben können. Und sie wagen es nicht, sich auf einen solchen Prozess einzulassen. Die Frage ist, ob man sich traut und es sich zutraut. Wenn ich ein Medikament einnehme, dann habe ich damit eine konkrete Stütze. Beim Heilen ist es offen. Der Heilige Geist weht, wo er will. Die Liebe fällt da hin, wo sie will. Ich sehe es so: Leider haben wir im Westen verlernt, uns jeweils wie Kinder ganz dem Moment hinzugeben.
Kritiker sagen, Ihre Kunst beruht auf dem Placebo-Effekt?
Vielleicht, ich weiss es nicht.
Anders gefragt: Viele Mediziner führen den Erfolg der Geistheiler auf Placebo zurück. Sind die Naturwissenschaftler unfähig, sich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen?
Nicht unfähig, sondern oft einfach unwillig.
In der Bibel heisst es, der Glaube kann Berge versetzen.
Richtig. Glauben bedeutet Vertrauen. Dieses Vertrauen kann man nicht herstellen oder erzwingen. Man kann es nicht mit dem Verstand befehlen, genauso wenig wie die Liebe oder den Schlaf. Das funktioniert nicht. Vertrauen muss wachsen, indem die Menschen anfangen, Mut zu fassen, sich wohl fühlen, sich fallenlassen und sich anvertrauen.
Ist das Vertrauen der Schlüssel in der Behandlung?
In meiner Arbeit arbeite ich viel mit Vertrauen und versuche es zu stärken. Heilung geschieht nur, wenn man loslässt, vertraut und sich darauf einlässt. Das lässt sich nicht erzwingen. Vertrauen ist es letztlich, das heilt. Wenn Kritiker nun diesen Prozess als Placebo-Effekt bezeichnen, dann kann ich dies sofort unterschreiben. Doch was heisst Placebo? Warum kann die Schulmedizin den Erfolg nicht anerkennen und muss diesen abwerten?
In der Schweiz gibt es unzählige Geistheiler. Was ist der Grund dafür?
Die Menschen sehnen sich nach Zuwendung, Verständnis und der Dimension des Heils. Sie wissen nicht, wo sie sich dies holen und wie sie es ausdrücken können. Theologie und Kirche haben leider eine Sprache, die diesbezüglich nicht mehr greift. Und die Esoterik spricht in Dimensionen, die mich oft auch nicht überzeugen. Für mich ist klar, das Heilen kommt von Gott.
Auch die Medizin und Naturwissenschaften führen manchmal nicht weiter?
Ich finde es wichtig, dass man zum Arzt geht. Aber manchmal stösst die Medizin an Grenzen und bietet keine Nahrung. Im Fokus der Ärzte steht die Gesundheit, bei den Geistheilern das Heil. Das ist nicht immer das Gleiche. Man kann todkrank sein, aber heil. Umgekehrt kann man kerngesund sein, aber «unheil». Viele glauben, durch das Heilen und Handauflegen erreiche man einen Idealzustand. Aber dem ist nicht so. Wer definiert denn, was perfekt ist und was funktioniert? Eine Maschine funktioniert. Doch wir sind keine Apparate, die nur Aufgaben erfüllen. Wir sind mehr als Maschinen. Wir Menschen sind Geist, Körper und Seele und also voller Leben.
Haben Sie das Gefühl, dass heute das Vertrauen in die Medizin fehlt?
Schwer zu sagen. Oftmals kommen die Leute zu mir, nachdem sie unzählige Ärzte konsultiert haben. Dann sind sie eher bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. Sie spüren, dass ihre Gesundheit nicht nur auf Medikamenten und Behandlungen beruht, sondern umfassender ist. Gerade die Schulmedizin ist sehr technisch geworden: Noch mehr Pillen, noch mehr Fallzahlen. Die Ärzte haben zu wenig Zeit für ihre Patienten. Und nehmen sie sich diese, wird sie ihnen nicht vollumfänglich vergütet. Das führt zu einer Massenabfertigung, die den Patienten kaum Zeit lässt sich auszusprechen.
Und dann kommen Patienten zu den Geistheilern?
Ja. Sie erwarten Zuneigung und Zuwendung, die Zeit und den Raum, dass ihnen jemand zuhört. Und dass sie berührt werden, absichts- und bedingungslos. Heute mangelt es aus meiner Sicht vor allem an Berührungen. Jede und jeder könnte daran etwas ändern. Das ist nicht schwierig.
Sind wir zu verklemmt?
Nicht verklemmt. Als reformierte Schweizer wissen wir nur nicht, wie wir uns körperlich ausdrücken können, so wie es die Italiener oder Spanier tun. Diese Zurückhaltung hat natürlich auch etwas Gutes. Ich selbst bin in einem reformierten Umfeld aufgewachsen und habe immer gespürt, dass mir die körperliche Dimension fehlt. Da ist die katholische Kirche anders. Dort riecht es nach Weihrauch, brennen Kerzen und die Liturgie lebt von den Ritualen. Wir Reformierten haben vor 500 Jahren das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als wir dies alles abgeschafft haben. Inzwischen hat sich dies geändert, es gibt in verschiedenen Kirchen Segnungsgottesdienste.
Zu einem anderen Thema: Fakt ist, es gibt unter den Heilern viele Scharlatane. Wie erkennt man diese?
Am besten ist es, man hört auf sich selbst.
Auf die eigenen Warnsignale?
Ja. Leider nimmt man diese oft nicht ernst. Wenn man sich nicht wohlfühlt, sollte man dem nachgehen. Ebenso, wenn die Preise überrissen sind, die Anzahl der Sitzungen endlos werden, die Macht missbraucht wird oder die Begegnung nicht auf Augenhöhe geschieht, der Heiler versucht, die Klienten aus dem Umfeld zu isolieren, der Ansatz nicht transparent ist oder es zu sexuellen Übergriffen kommt.
Dann sollte man die Sitzungen abbrechen?
Ja. Der Prozess basiert aber auch auf Vertrauen. Deshalb sollte man auf die positiven Signale achten. Die beste Haltung gegenüber einem Geistheiler, einem Psychotherapeuten oder Arzt ist, offen und gleichzeitig wachsam zu sein.
Wurden Sie auch schon geheilt?
Ja. Sie werden lachen, durch eine Katze. Vor Jahren konnte ich mich einmal nicht mehr bewegen. Jede Haltung, die ich einnahm, schmerzte. Ich war verzweifelt und wusste mir nicht mehr zu helfen. Ich lebte damals mit einer Katze, die nicht anhänglich war und sich nicht streicheln liess. Die Katze sass auf einem Stuhl und beobachtete mich. Ich kroch mühsam auf sie zu. Da legte sie mir die Pfote auf die Schultern und leckte meine Haare. Das hat sie vorher und nachher nie mehr getan. In diesem Moment waren all meine Schmerzen weg.
Interview: Tilmann Zuber, 12.2.2019, Kirchenbote
Können Hände heilen?