Kontroverse Themen: «Ja, die Schweiz soll diskutieren»
«Sollten homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürfen?» «Wird in der Schweiz zu viel Land überbaut?» «Braucht es eine Frauenquote in den Chefetagen grosser Unternehmen?» «Geht es den Einwohnerinnen und Einwohnern in der Schweiz heute schlechter als vor zehn Jahren?»
Wer die Websites oder Zeitungen von SRF, Tamedia, Republik, WOZ, Watson oder «Die Zeit» liest, ist vielleicht diesen oder ähnlichen Fragen schon begegnet. Ebenso findet man sie in weiteren vier Ländern, in Deutschland etwa auf der deutschen Online-Plattform evangelisch.de oder beim christlichen Magazin «Chrismon». Erst nach ein paar Klicks wird klar, worum es geht: Ziel ist schliesslich eine Diskussion mit einer Person, die eine der eigenen möglichst entgegengesetzte Meinung vertritt.
Computer sucht Gegenüber aus
Das Projekt «My country talks» (Mein Land spricht) wurde 2017 von der «Zeit online» in Zusammenarbeit mit Google entwickelt. Mit ein paar einfachen Fragen soll die Position einer Person eingeschätzt werden. Die Antworten wertet ein Algorithmus zusammen mit ein paar persönlichen Daten aus und schlägt eine Person als Gegenüber vor. Am 21. Oktober um 15 Uhr sollen sich die beiden Leute live treffen und miteinander reden.
Bei der ersten Durchführung hätten sich in Deutschland vor der Bundestagswahl 12’000 Menschen angemeldet, schreibt evangelisch.de. 2018 machen elf deutsche Medienhäuser mit, dort sollen die Diskussionen am 23. September stattfinden. Auch in Norwegen, Österreich und Dänemark sind Veranstaltungen geplant.
Auch als App zu haben
Parallel zum Projekt der Medienhäuser und dadurch inspiriert haben zwei Schweizer eine App entwickelt. Auf radius-schweiz.ch suchen die Berner Brüder Livio und Lucas Liechti Unterstützung. Die App soll politisch Andersdenkende zusammen- und zum Austausch bringen – im Unterschied zum Vorhaben der Medienhäuser aber nicht auf ein bestimmtes Datum hin, sondern dann, wenn es den Mitmachenden passt. Ab dem 15. September können sich Interessierte registrieren.
«Das Projekt ist sicher sinnvoll», sagt Marlène Gerber vom Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern. Die Wissenschaftlerin hat ihre Doktorarbeit zum Thema Deliberation verfasst. Diese Theorie geht davon aus, dass Diskussionen mit Personen, die anderer Meinung sind, Respekt und Toleranz förderten, begründet die Politologin. «Und der Konsens, der Kompromiss ist schliesslich immer die nachhaltigste Lösung.»
Direktbegegnung hat Vorteile
Besonders günstig sei mit Blick auf die Absicht des Projekts, dass sich die Personen live treffen. Zwar muss man die Anonymität aufgeben, die etwa bei Diskussionen im Internet auch ein Schutz sein kann, räumt Gerber ein. «Aber eine direkte Begegnung schafft persönliche Verbindungen, die es virtuell nicht gibt. Man tendiert zudem weniger zu extremen Positionen und hält sich eher an Konventionen.»
Eine gute Idee in Bezug auf die Signalwirkung findet Marlène Gerber auch, dass die Diskussionen auf einen bestimmten Zeitpunkt angesetzt sind. Das erhöhe die Aufmerksamkeit für das Anliegen. Doch um den Austausch zu üben, also für die Beteiligten selbst und für langfristige Effekte, wären wiederholte Diskussionen besser, sagt die Wissenschaftlerin. Das schmälert aus ihrer Sicht aber den Nutzen des Vorhabens nicht: «Ja, die Schweiz soll diskutieren.»
Marius Schären, reformiert.info, 28. August 2018
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