«Kritik muss man aushalten, sie ist notwendig»
Ein Wagnis ist es – und soll es auch sein. Die reformierte Kirche in Erlenbach an der Zürcher Goldküste profiliert sich seit 2014 als eine Art Gesamtkunstwerk. Momentan sind in ihr und um sie massive begehbare Skulpturen des Plastikers Kurt Sigrist ausgestellt.
Von «ausstellen» möchte der Erlenbacher Pfarrer Andreas Cabalzar bei einem Rundgang aber nicht reden, das Wort «Interventionen» gefällt ihm besser. Man solle die Objekte nicht einfach bestaunen, sondern anfassen, begehen, sich von ihnen berühren lassen. «Wie besteht Kunst im Kirchenraum? Was erzeugt Reibung?» Das sind Fragen, die Cabalzar mit der Intervention auslösen will.
Der «Erdtisch» vor der Kirche
Es regnet, und der Verkehr ist laut, der direkt vor der Kirche auf der vielbefahrenen Seestrasse vorbeiführt. Beim Eingang stehen drei Stahlskulpturen: In der Mitte der grosse begehbare «Erdtisch», rechts und links stehen je eine «Behausung». «Kurt Sigrist hat die Achse betont», erläutert Cabalzar, «der ‹Erdtisch› vor dem Eingang ist auf einer Linie mit einem Objekt im Chor der Kirche und einem ausserhalb auf der Seeseite. Die drei bilden den Lebensbogen ab: Geburt, Transformation, Tod.»
Dass die Kirchgemeinde Erlenbach sich so der Kunst widmet, hat einen soziologischen Hintergrund. Gemäss einer Studie gehören 75 Prozent der Gemeindemitglieder zu Leitmilieus und sind sehr kunstinteressiert. Mit der ehemaligen Kirchenpflegerin und Psychiaterin Ute Hock und dem Zürcher Galeristen Mark Müller hat Cabalzar deshalb das dreijährige Kunstprojekt «KulturKircheErlenbach» initiiert. Es kostet jährlich rund 30‘000 Franken. Ende 2016 wird über die Weiterführung entschieden.
Der «Hirsch» in der Kirche
«Die neugotische Kirche ist ornamental überladen, deshalb haben wir hier im Innern nur fünf Objekte aufgenommen», erläutert Cabalzar. Im Chor steht die Holzskulptur «Zeitraum Hirsch, Lebensraum». Man kann in sie hineinsitzen, auf dem Dach thront ein stilisiertes Hirschgeweih. «Es erinnert an skandinavische Formen der Religiosität, hat aber auch einen Bezug zu den Kerzenständern in der Kirche», so Cabalzar.
Die Lancierung des Kunstprojekts war kein Spaziergang: An der Kirchgemeindeversammlung hätten traditionell eingestellte Gemeindeglieder dreimal versucht, das Projektbudget zu streichen, ohne Erfolg, erzählt Cabalzar. Und Wertkonservative hätten Probleme, dass die Kirche Kunst beherberge, bei der der christliche Bezug nicht unmittelbar erkennbar sei. Im Unterschied zu deutschen Kunstkirchen, die alle umgenutzt seien, werde die Erlenbacher Kirche noch ganz normal als Gemeindekirche gebraucht.
«La Terra» hinter der Kirche
«Kritik muss man aushalten, sie ist notwendig. Eine Kirche, die sich aussetzt, ob politisch oder künstlerisch, muss mit Widerstand rechnen», meint Cabalzar. Eine Kirche, die sich bewege, bringe aber auch andere in Bewegung. Die Vernissage letzte Woche sei jedenfalls sehr gut besucht gewesen, die Reaktionen positiv.
Das grösste, bereits erwähnte Objekt ist «La Terra» aus Stahl und Erde hinter der Kirche, in das bis zu vier Personen einsteigen können. Allerdings ist es eng, und nur die Köpfe der Betrachter schauen heraus. «Das Beklemmende steht für den Tod. Die Skulptur zeigt den Zusammenhang mit Religion. Poesie, Kunst und Religion gehen ineinander über und sind vieldeutig», schwärmt Cabalzar. «Die Konfirmanden haben ‹La Terra› übrigens kürzlich neugierig in Besitz genommen, das war sehr schön.» Das Wagnis hat sich hier bereits gelohnt.
Die Intervention «La Terra» von Kurt Sigrist ist bis am 29. Oktober in der Kirche Erlenbach zu sehen, täglich von 8 bis 20 Uhr.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Matthias Böhni / ref.ch / 18. April 2016
«Kritik muss man aushalten, sie ist notwendig»