Lebensschule Scheitern: Kein Versagen, sondern Ansporn
Comic-Ente Donald, Duck, Liedermacher Konstantin Wecker und Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling – sie alle sind erfahren im Scheitern mit unterschiedlichem Ausgang. Sie dienten der Philosophin und Ethikern Dagmar Fenner in ihrem Vortrag «Die Optimierung des Scheiterns» als Beispiele für die verschiedenen Strategien im Umgang mit dem Misserfolg.
Ausgerechnet der permanente Verlierer Donald Duck entpuppt sich dabei als «Held des Scheiterns». Der Ruf nach individueller Perfektionierung münde bei vielen in ein Gefühl ständiger Unzulänglichkeit. Dagegen rappelt sich Donald wie ein Stehaufmännchen immer wieder auf, geniesst seine Hängematte und beginnt mit ungebrochenem Lebensmut fröhlich von vorne. Dieser Optimismus helfe, sich im Schlechten auf das Gute zu konzentrieren, sagte Fenner.
Der Erfolg adelt das Scheitern
Die Philosphin verwies auf den Widerspruch, dass Scheitern in der heutigen Zeit, in der die Verbesserung der eigenen Person moralische Pflicht sei, als Niederlage der Ich-AG verstanden und vertuscht werde; jedoch ein öffentlicher Kult betrieben werde, wenn das Scheitern wie bei Joanne K. Rowling im Triumph des von allen bewunderten Erfolgs endet. Ihr Aufstieg von der Sozialhilfebezügerin zur Millionärin wurde zum medialen Ereignis.
Wie Scheitern zu einer Erkenntnis führt, beschreibt Konstantin Wecker in seinem Buch «Die Kunst des Scheiterns». Im Scheitern hat er zu einer «ehrlichen Selbstanalyse» gefunden. So könne man produktive Veränderungen an sich selbst vornehmen, meinte Dagmar Fenner. «Versteht man Scheitern nicht als persönliches Versagen, sondern als Ansporn und Lebensschule, schärft dies den Blick für das, was im Leben zählt.»
Ausgrenzung statt Solidarität
Scheitern gehöre seit jeher zum Leben. «Scheitern ist normal, Erfolg die Ausnahme», so Dagmar Fenner. Doch statt mit Solidarität reagiere die Gesellschaft mit Ausgrenzung der «Verlierer». So sieht das auch die Theologin und Spitalseelsorgerin Regine Munz. Auf das Unglück folge oft die «Entwurzelung aus allen Bezügen des Lebens». Um das zu vermeiden, «müssen wir wieder erkennen, dass wir voneinander abhängig sind».
Der anschliessende Stadtrundgang führte die Tagungsteilnehmer von der Theorie in die Praxis. Markus Christen zeigte «Orte des Scheiterns» im sozial durchmischten Kleinbasler Matthäusquartier. Seit 2013 bietet der Verein «Surprise» diese Touren an. Die Stadtführer sind wie Christen Ausgesteuerte, die kaum etwas besitzen. Als «Experten der Strasse» erzählen sie aus ihrem Alltag.
Der Weg «von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe» führte unter anderem vom Sonntagszimmer der reformierten Kirche Basel-Stadt, wo man Gemeinschaft findet, zum Gebäude der Sozialhilfe, «wo die Armut verwaltet wird». Markus Christen erzählte, wie die Stadt Randständige unsichtbar macht: mit Bänken, auf denen man nicht schlafen kann, weil die Rückenlehne fehlt, oder mit Rasensprengern, die im Park um zwei Uhr morgens das Gras wässern und alle, die sich dort hingelegt haben, vertreiben.
Glück ist nicht käuflich
Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz, sprach am Nachmittag über «die Tretmühlen des Glücks», die er in seinem gleichnamigen Buch beschreibt.
Die kapitalistische Wirtschaft basiert auf der Annahme, dass Altes zerstört werden muss, um Neues zu schaffen. Dieser Prozess der «schöpferischen Zerstörung» ermöglicht Wachstum. Die Unternehmen trieben dies stark voran und suchten ständig nach Neuem, so Binswanger. Mehr Wirtschaftswachstum bringe mehr Geld, doch die Menschen würden nicht glücklicher. Dies zeigten Untersuchungen.
«Wie auf dem Laufband rennt man immer schneller und kommt doch nicht vorwärts», erklärte der Ökonom. Denn was glücklich mache, könne man nicht kaufen: Gegen Geld gebe es ein Bett, Essen, Schmuck, Medizin, Spielzeug, oder auch einen Platz in der Kirche, jedoch keinen Schlaf, keinen Appetit, keine Schönheit, Gesundheit oder Freude und keinen Platz im Himmel. Das Hauptziel wirtschaftlicher Tätigkeit liege nicht im Geldverdienen. «Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus unserem Leben zu machen», wie der Schriftsteller George Bernard Shaw es formuliert habe.
Scheitern vorprogrammiert
Dagegen entpuppten sich das ständige Streben nach Status, die unüberschaubare Auswahl von Möglichkeiten oder die steigenden Ansprüche als Tretmühlen, die das Scheitern vorprogrammieren, sagte Mathias Binswanger. Das Leben in einer instabilen Welt, in der jeder die Aufgabe habe, ständig zu wählen und alles zu entscheiden, führe zur «Müdigkeit, sich selbst zu sein», formulierte es Regine Munz.
Binswangers Fazit: Die «schöpferische Zerstörung» hat heute ein Ausmass erreicht, die das Wohlbefinden der Menschen nicht mehr fördert. Sie treibe stattdessen die «Tretmühlen des Glücks» an. Unser Verhältnis zum Scheitern sei «schizophren» geworden. Aus Fehlern könne man lernen, darum sei Scheitern wichtig, werde einerseits gepredigt. Andererseits herrsche ein Erfolgskult, bei dem Scheitern tabu sei. So fehle der Sinn. «Wir wissen, dass 'schöpferische Zerstörung' gut ist, aber wir wissen oftmals nicht wozu.» Das Ganze sei zum Selbstzweck geworden.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Karin Müller / Kirchenbote / 4. Juli 2016
Lebensschule Scheitern: Kein Versagen, sondern Ansporn