«Leidenschaftliches Plädoyer für die vernünftige Religiosität»
«Religion – Friedensstifterin oder Unruheherd?» heisst das Jahresthema des ökumenischen Forums für Ethik und Gesellschaft Muttenz. Es geht darum, was für positive Wirkungen Religion haben kann und was für negative. Der Theologe Ralph Kunz eröffnete Anfang Februar per Livestream die Vortragsreihe. Er hielt ein Plädoyer für die «vernünftige Religiosität». Ralph Kunz beschäftigte sich mit dem Vorwurf, Religion sei verantwortlich für Gewalt und Krieg und würde die Menschen nicht verbinden, sondern trennen. Genauso gut könne man fragen: «Säkulare Gesellschaften – Unruheherd oder Friedensstifterin?», meinte er.
Fromm oder aufgeklärt?
Ausgehend von der Gretchenfrage in Goethes «Faust»: «Wie hast du’s mit der Religion?», erklärte der Theologe, Faust sei kein Christ, aber auch kein kämpferischer Atheist. Gretchen stehe für den dogmatischen, kindlichen Glauben, während Faust den aufgeklärten Geist verkörpere. Diese beiden Figuren seien immer noch aktuell in den religionssoziologischen Studien der Gegenwart. Die Gretchentypen nenne man heute «hochreligiös», die Fausttypen sagten von sich, sie seien nicht religiös, sondern spirituell.
Seit den 1960er-Jahren schritten die Pluralisierung und die Individualisierung der Gesellschaft voran mit einer zunehmenden Distanzierung von der Kirche. Die Aufklärung habe die Religion bei uns ins Private verwiesen. Viele nähmen Religion und Vernunft als Gegensatz wahr und sähen in der Religion vor allem das Konfliktpotenzial, so Kunz. Zweifellos könne gelebte Religion wie etwa im militanten Islamismus ein «brandgefährliches Gesicht» zeigen. «Religiosität ist zwiespältig, weil der Mensch zwiespältig ist. Es gibt eine Religiosität, die krank macht und die Menschen niedermacht. Und es gibt Religiosität, die eine heilsame Wirkung entfaltet.» Und weil Religion ambivalent ist, müsse sie kritisiert werden, betonte Ralph Kunz.
Kritik, welche Religion nur als Übel sieht, sei jedoch bei genauer Betrachtung unkritisch, weil sie die positive Seite, die Ambivalenz des Phänomens, ausblende. Kritik dürfe Religion weder verurteilen noch verklären, sie müsse die wahre von der falschen Religion unterscheiden. Dies mache die Kritik vernünftig. «Sie hören hier ein leidenschaftliches Plädoyer für die vernünftige Religiosität», sagte der Theologe.
Allerdings sei die Vernunft ebenso ambivalent und müsse darum gleichermassen kritisiert werden können. Doch woran misst sich die Vernunft? Wer bestimmt, was gut oder schlecht, wahr oder falsch ist? Die religiöse Antwort finde man bei Gott, so Ralph Kunz. Gott habe den Menschen den Verstand gegeben. «Damit können vernünftige religiöse Menschen leben», meinte er.
Gegen falsche Frömmigkeit
In der Bibel findet Ralph Kunz die Tätigen des Wortes, die Friedensstifter, und die Untätigen. Bemerkenswert sei, dass viel mehr von Letzterem die Rede sei. Es sei in der Bibel viel öfter von fehlgeleiteter als von gelungener Religion die Rede. «Die Bibel ist das religionskritischste Buch, das ich kenne.» Die Religionskritik in der Bibel richte sich mit prophetischen Texten gegen die falsche Frömmigkeit, etwa mit den Geschichten von Adam und Eva, dem Turmbau zu Babel oder der Sintflut, die eine Abkehr vom strafenden Gott markiere. Die Propheten wiederum zeichneten sich dadurch aus, dass sie gegen das Establishment seien, in der Bibel seien sie Figuren der wahren Religion.
Mit der Religion komme auch der Widerstand, sagte Ralph Kunz. «Die säkularisierte Religionskritik will Religion privatisieren und uns schützen vor der bösen Religion. Die spirituelle Religionskritik will die wahre Religion befreien, um ihre heilsame Wirkung zu maximieren.» Und die Kirche? Ihre Rolle sei nicht, sich als Weltverbesserin oder ultimative Friedensinstanz zu inszenieren. Die Kirche müsse die Hoffnung am Leben erhalten und uns vor den radikalisierten Weltverbesserern bewahren, aber auch vor den resignierten zynischen Apokalyptikern, meinte der Theologe.
Karin Müller
«Leidenschaftliches Plädoyer für die vernünftige Religiosität»