Liebe als Widerstand: Besuch der weltweit grössten LGBTQ+-Gemeinde
Was zuerst ins Auge sticht, ist der futuristische Glockenturm aus Beton: Über 20 Meter hoch ragt er inmitten eines grossen Parkplatzes in den Himmel, der an diesem Sonntagmorgen tiefblau ist. Der Turm ist ein Mahnmal, den Opfern von HIV/AIDS gewidmet.
Er gehört zu einem grossen Kirchenkomplex in Oak Lawn, einem Stadtteil der texanischen Stadt Dallas. In der Cathedral of Hope befindet sich die weltweit grösste LGBTQ+-Gemeinde. Das mag in einem konservativen Staat wie Texas erstaunen: Seit Jahren werden die Gesetze gegen LGBTQ+-Personen immer restriktiver. Das jüngste Beispiel: Ein Ende Juni eingeführtes Gesetz, das Hormontherapien für Trans-Jugendliche verbietet und ihre Rechte somit weiter beschneidet.
Ein weiteres Gesetzesvorhaben sorgte vor einem Jahr für Aufregung. Dieses sieht vor, Aufführungen von Drag-Performern in Anwesenheit von Minderjährigen strafbar zu machen. Die Cathedral of Hope hielt damals demonstrativ einen Segnungsgottesdienst für Drag-Queens ab. Es kam zu homophoben Protesten vor der Kirche, über die Medien landesweit berichteten.
Souvenirs mit Regenbogen
In diesem politisch aufgeladenen Klima wird Sicherheit grossgeschrieben. Beim Eingang zur Kirche steht ein bewaffneter Sicherheitsbeamter mit Cowboyhut. Der Weg führt an einem Souvenirladen vorbei, wo, ganz amerikanisch, Tassen, Trinkflaschen, Hüte und T-Shirts mit dem Regenbogen-Symbol angeboten werden. Der moderne Kirchenraum strahlt Wärme und Akzeptanz aus. In den farbigen Glasfenstern sind die Gender-Symbole und das Wort «Hoffnung» zu erkennen.
Es ist kurz nach 8 Uhr, die ersten Besucherinnen und Bescher strömen herein, darunter viele gleichgeschlechtliche Paare. Am heutigen 7. Juli hält Pastor George Mason eine Gastpredigt. Er leitete 33 Jahre die liberale Wilshire Baptist Church. Der bekannte Theologe und Professor an einer renommierten texanischen Universität ist in der LGBTQ+-Gemeinde eine Art Star, der mit viel Applaus willkommen geheissen wird. Im Jahr 2000 trennte sich die Kirche unter Masons Führung von der konservativen Dachorganisation Southern Baptist Convention, die Homosexualität als Sünde betrachtet und innerhalb des Protestantismus die grösste Konfession in den USA ist.
Nur wenige Minuten von der Cathedral of Hope befindet sich eine prominente Hochburg der Southern Baptists, die First Baptist Church in Dallas. Donald Trump hielt dort 2021 die Weihnachtsansprache.
Highschool-Jacke ablegen
In seiner Gastpredigt in der Cathedral of Hope betont Mason die Notwendigkeit, sich auf eine spirituelle Reise zu begeben, um seine eigene Glaubensheimat zu finden. «Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein erwachsener Mann nicht bereit ist, seine coole Highschool-Jacke abzulegen», sagt er allegorisch. Wir müssen erwachsen werden, selbst wenn das bedeutet, unsere Heimat zu verlassen und eine neue Gemeinschaft zu finden. Auch Jesus sei diesen Prozess durchlaufen, sagte Mason, und nimmt Bezug auf Markus 6, als Jesus in seiner Heimatstadt abgelehnt wurde und weiterziehen musste.
Eltern sollten ihren Kindern nicht ihren eigenen Glauben aufzwingen, sondern ihre individuelle Beziehung zu Gott feiern. Besonders schwierig sei es, in einer Kirche aufzuwachsen, die Menschen wegen ihrer Sexualität verurteilt. «Da ist es manchmal nötig, die Kirche der Kindheit zu verlassen und den eigenen Glauben neu zu gestalten.» Er selbst habe seine Sicht auf die gleichgeschlechtliche Ehe im Laufe der Jahre verändert. Mason beschreibt dies als einen schmerzhaften, aber bereichernden Weg, der ihn schlussendlich an diesem Tag auch zur Cathedral of Hope brachte.
Viele der Anwesenden haben einen solchen schmerzhaften Weg hinter sich. Eine von ihnen ist die 77-jährige Jan Nunn, die seit fast dreißig Jahren die Cathedral of Hope besucht. Sie wuchs in einer kleinen Stadt im Westen von Texas auf und war die Frau eines Pfarrers der Southern Baptists, als sie sich in eine Freundin verliebte. 2015 heirateten die beiden Frauen in der Cathedral of Hope, nachdem der Supreme Court die gleichgeschlechtliche Ehe im selben Jahr legalisiert hatte.
Die Kirche, die 1970 in Dallas gegründet wurde, wollte zunächst nur homosexuelle Menschen ansprechen, öffnete sich dann aber für alle. «Wir wollen inklusiv sein ohne Einschränkung», sagt Nunn. Dass diese Kirche ausgerechnet in Texas stehe, ist für sie kein Zufall. «Menschen im Bibelgürtel sind mit der Kirche aufgewachsen und sehnen sich danach, selbst wenn sie von ihr verletzt wurden.
In Dallas gab es also Bedarf. Sie fühlten, dass Gott sich nicht von ihnen abgewandt hatte, sondern die Kirche.» Was das Besondere an der Church of Hope ausmacht, drückt Nunns Frau Barb, die im Orchester spielt, so aus: «Viele Menschen aus der LGBTQ+-Gemeinschaft fühlen sich mittlerweile in anderen Kirchen willkommen, aber nur hier werden wir gefeiert.»
Die Cathedral of Hope hat über 3000 Mitglieder in der Region. Eines davon ist auch der eingangs erwähnte Sicherheitsbeamte Joe Carbajal, wie er im Gespräch nach dem Gottesdienst verrät. Er ist heterosexuell, verheiratet und begann vor einem Jahr hier zu arbeiten. Mittlerweile ist seine ganze Familie in die Kirche eingebunden: Seine Frau ist ebenfalls für die Sicherheit zuständig, die Kinder helfen im Buchladen mit. Warum er sich in der Church of Hope beheimatet fühlt? «Wenn man diese Kirche betritt, spürt man einfach Liebe», sagt er.
Diakonie in der Aids-Krise
Die Cathedral of Hope (CoH) in Dallas ist eine prominente LGBT+-Gemeinde und Mitglied der United Church of Christ. Sie ist bekannt als die weltweit grösste inklusive «liberale christliche Kirche mit einem primären Fokus auf lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen». Die Kirche wurde 1970 gegründet und leistete in 80er und 90er Jahren wichtige diakonische Arbeit in der AIDS-Krise. Das markante Gebäude der CoH, entworfen von Philip Johnson, symbolisiert ihren liberalen christlichen Glauben und umfasst eine Kapelle des interreligiösen Friedens sowie ein Gemeindelebenszentrum. Die Kirche ist in der Region für ihr soziales Engagement für Obdachlose und Benachteiligte bekannt.
Liebe als Widerstand: Besuch der weltweit grössten LGBTQ+-Gemeinde