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«Luther würde sagen: redet miteinander und handelt»

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22.09.2016
In Anbetracht des sozialen Elends in vielen Teilen der Welt sei die Kirchenspaltung nicht mehr zu verantworten, sagt der ehemalige deutsche Bundesminister Heiner Geißler in seinem neusten Buch.

Herr Geißler, von Ihnen stammt die Aussage «jeder intelligente Katholik ist in seinem Inneren Protestant. Und jeder intelligente Protestant ist in seinem Innern Katholik».
Ja. Intelligenz ist die Fähigkeit, selbständig zu denken, hat Kant formuliert. Wenn man selbständig denkt, muss man gegenüber der eigenen Kirche protestieren. Man muss bereit sein, die eigene Kirche zu reformieren. Das gilt sowohl für die Katholiken wie die Evangelischen. Bei den Katholiken ist der Reformbedarf jedoch grösser.

Ihr jüngstes Buch trägt den Titel «Was müsste Luther heute sagen?» Was würde der deutsche Reformator heute sagen?
Luther würde sagen, macht nicht dieselben Fehler wie wir vor 500 Jahren. Redet miteinander auf Augenhöhe und handelt. Die Welt wird heute von unchristlichen, kapitalistischen Werten beherrscht, die sich nur nach der Ökonomie richten. Es ist höchste Zeit, dass die Kirchen aufwachen, sich zusammenschliessen und die politische Dimension des Evangeliums in der Weltpolitik vertreten.

Halten Sie die Kirchenspaltung für überflüssig?
Die Spaltung ist nicht mehr zu verantworten, weil die Gründe nicht vorhanden sind. Luther und die Reformatoren haben sich von der katholischen Kirche nicht losgesagt. Die Spaltung hat zum grossen Teil die katholische Kirche verursacht.

Trotzdem: Die Kirchenspaltung ist ein Fakt, der von Reformierten wie Katholiken immer wieder betont wird.
Die beiden Kirchen haben mit ihrer Erklärung zur Rechtfertigungslehre die theologische Diskrepanz längst ausgeräumt. Das war richtig und falsch. Eigentlich hätten sie die Rechtfertigungslehre aufgeben müssen. Sie bildet das grösste Hindernis, dass der moderne Mensch Ja zu den Kirchen sagen kann. Die Rechtfertigungslehre kommt in den Evangelien nicht vor, ansatzweise bei Paulus. Aber Paulus ist nicht Jesus. Die Vorstellung, dass die Erbsünde durch den Geschlechtsverkehr von Generation zu Generation weitergegeben wird, hat in den Evangelien keine Grundlage und ist für einen modernen Menschen unverständlich. Heute steht diese Lehre wie eine riesige Mauer zwischen den Kirchen und den selbständig denkenden Menschen. Die Menschen lassen sich von den Theologen nicht länger als Klumpen, Dreck und Sünder beschimpfen, die durch die Gnade Gottes erlöst werden müssen.

Erreichen die Kirchen mit ihrer Botschaft die Leute nicht mehr?
Ein Verwandter von mir, ein Protestant, erklärte mir, er sei es leid, sich alle 14 Tage von der Kanzel her anzuhören, er sei ein Sünder. Anschliessend müsse er dies noch singen. Im Rückblick auf die letzten Monate fiele ihm jedoch keine Sünde ein, die er begangen hätte. Die Botschaft der Kirchen zielt an den Menschen vorbei. Und das, was gesagt werden müsste, wird nicht gesagt. Über Jahre warb der «Medienmarkt» mit der Botschaft «Geiz ist geil». Eine fürchterliche Aussage, gegen die jeder vernünftige Mensch, insbesondere aber die Kirchen, einen Aufstand hätten machen müssen. Haben Sie etwas gehört? Ich nicht. Die Kirchen haben es verschlafen, ein Zeichen gegen eine ungerechte Weltordnung zu setzen. Die Kirchen hätten heute die Pflicht, gegen die Gefährdung der Menschheit durch die unchristlichen, antichristlichen und atheistischen Wirtschaftsmächte anzugehen.

Verteufeln Sie da nicht die Wirtschaft?
Wir leben in einer Zeit des ökonomischen Absolutismus. Die Menschheit produziert im Jahr weltweit ein Bruttosozialprodukt von 70 Billionen Dollar. Nach Schätzung der Weltbank beträgt die Geldmenge, die im Umlauf ist, mindestens 300 Billionen Dollar. Das bedeutet: 230 Billionen Dollar gehören ein paar wenigen, die in Nanosekunden Geschäfte zwischen London, New York und Frankfurt tätigen und ihr Vermögen vermehren. Gleichzeitig zerstören diese durch ihre Rücksichtslosigkeit die Umwelt, und die Kluft zwischen Reichen und Armen wächst ständig.

Da müssten die Kirchen ihre Stimmen erheben?
Ja. Wir brauchen eine neue Wirtschaftsordnung, die auf dem ethischen Fundament der Weltreligionen basiert. Im Evangelium ist dieser politische Auftrag zweifellos vorhanden. Mit Ausnahme von Papst Franziskus reagieren die Kirchen jedoch kaum.

Warum?
Die Kirchen beschäftigen sich mit sich selber, nicht mit den Problemen der Menschheit. Die Katholiken mit ihren selbstgebastelten Sexualnormen. Die Evangelischen sind durch die nationale Aufsplitterung geschwächt. Und die Orthodoxen sind politisch abhängig, wie im Fall Russlands.

Überschätzen Sie den Einfluss der Kirchen auf die Wirtschaft und Politik nicht?
Nein, keineswegs. Vor sechzig Jahren entstand die erfolgreichste Wirtschaftsphilosophie der Geschichte, nämlich die soziale Marktwirtschaft. Diese beruht auf einem Bündnis des Ordoliberalismus der Freiburger Schule mit der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Die soziale Marktwirtschaft ermöglichte in Deutschland das Wirtschaftswachstum und den wirtschaftlichen Aufstieg Europas. Das führende Buch des damaligen deutschen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard hatte den Titel «Wohlstand für alle» und nicht nur für zwei Drittel oder vier Fünftel.

Dieser Impuls müsste von den Kirchen kommen?
Ja. Doch es gibt kein einheitliches Engagement der evangelischen und reformierten Kirchen. Wann geschieht dies auf nationaler Ebene? Es fehlt das Bewusstsein, dass die heutigen Probleme des Einzelnen und der Menschheit nicht mehr auf regionaler Ebene gelöst werden können. Das Schicksal des Menschen ist heute nur noch global zu beantworten. Jene, die Macht und Entscheidungsgewalt haben, müssen sich heute an keine politische Ordnung halten. Die globale Finanzindustrie erzielt dadurch enorme Gewinne. Die Folgen, etwa die Flüchtlingskatastrophe, blendet sie aus. Deshalb muss man die Ursachen der Flüchtlingsbewegung bekämpfen, nicht die Flüchtlinge.

Hat dies ökonomische Gründe?
Die Flüchtlingsbewegung ist verursacht durch unser Wirtschaftssystem. Ein paar Weltkonzerne plündern Teile Afrikas und Asiens aus, brennen ganze Wälder ab, um Palmöl anzupflanzen. Afrika ist der reichste Kontinent an Bodenschätzen. Doch sie werden von internationalen Konzernen ausgebeutet, welche die Erträge auf dem Weltmarkt gewinnbringend verkaufen. Die Schätze müssen den Menschen gehören, die dort wohnen. Als ich Senegal besuchte, fand ich auf dem Gemüsemarkt vor allem holländische Tomaten und Gurken. Die Agrarsubventionen der EU sind eine der Ursachen, dass die Menschen dort ihre Existenzgrundlage verlieren und als Flüchtlinge nach Europa auswandern. Sie erhoffen sich, dass es ihnen bei uns besser geht. Und dann treffen sie in Europa auf ein flüchtlingsfeindliches und nationalistisches Klima. Nationalismus und Rechtsextremismus nehmen zu, weil die Werte nicht mehr da sind. Die Kirchen müssten die Veränderung unserer geistigen Welt anstreben.

Apropos Werte. Herr Geißler, Sie selbst sind ja Mitglied einer Partei, die das «C» im Titel trägt. Müsste die CDU nicht christlicher auftreten?
Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und der CDU entstand aus diesem C. Vergessen Sie nicht, die Bundeskanzlerin stammt aus einer evangelischen Pfarrfamilie, der Bundespräsident ist evangelischer Pastor. Sie sehen die Flüchtlingsproblematik völlig anders als die Neonazis, die in Deutschland wieder frech werden, und die europäischen Länder, die sich hinter ihrem Nationalismus verbarrikadieren. Ich habe die Christliche Demokratische Union in der Vergangenheit öfter kritisiert. Aber die CDU ist zurzeit in Deutschland einer der wichtigsten Garanten für eine ethisch fundierte Politik. Auch die CDU muss aufpassen, wenn sie glaubt, sie könnte die nationalistischen Parteien verhindern, indem sie deren Parolen übernimmt. Damit würde sie ihre Seele verraten.

Die Rechten treiben heute die bürgerlichen Parteien vor sich her.
Die Parteien haben in Deutschland Angst vor der AFD. Sie meinen, wenn sie deren Parolen übernehmen, können sie etwas gewinnen. Sie erreichen das Gegenteil. Wenn sie auf der rechten Seite zwei Prozent gewinnen, verlieren sie in der Mitte das Sechsfache. Die AFD wäre schon längst Makulatur, wenn nicht diese Flüchtlingswelle gekommen wäre.

Herr Geißler, Sie sind 86 Jahre alt. Verändert dies den Blick auf die Politik?
Nein. Ich kann mich noch aufregen und engagieren, schreibe Bücher und bin in den Medien. Man muss eben geistig und körperlich fit bleiben. Auch heute noch gehe ich in die Alpen. Ich war gerne zum Bergsteigen in der Schweiz, im Berner Oberland.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 22. September 2016

 

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