Die Rolle im Leben von Dominique Kaehler Schweizers Lebens heisst «Madame Tricot». Unter diesem Namen setzt sie sich kritisch mit religiösen Darstellungen auseinander – und strickt sie. Das ist nichts für zarte Gemüter. So strickte sie etwa eine weibliche Jesusfigur mit Babybauch. Als sie diese in einer Galerie Zürich ausstellte, sprayte jemand «Shame on you!» an die Mauer.
«Ich wollte Nonne werden»
Gaby Wiss, Pfarreiseelsorgerin Pfarrei St. Michael Zug, kann in der gut besuchten City-Kirche eine ältere Dame begrüssen, die eine spannende Vita hat: In Paris in einer Designer-Familie aufgewachsen. Medizin studiert und parallel die École du Louvre besucht. Vor über 40 Jahren zog sie wegen ihres Mannes nach Wil SG. Als Dr. Dominique Kaehler Schweizer arbeitete sie mehrere Jahrzehnte als Psychiaterin und Ärztin für Naturheilkunde.
Gaby Wiss legt auch ihre religiöse Herkunft frei: Madame Tricot stammt aus einer atheistischen Familie aus Paris, ist aber katholisch getauft. «Ich wollte sogar Nonne werden. Ich habe mich deshalb sehr mit katholischen Traditionen auseinandergesetzt», sagt die Strickkünstlerin.
Jesus, Greta Thunberg und Alexei Nawalny
Seit einiger Zeit setzt sie sich kritisch mit religiösen Darstellungen auseinander und strickt sie nach. So sehen die Besuchenden auf dem Screen weitere Figuren wie die heilige «Kümmernis», die sie nachgestrickt hat. Sie zeigt eine junge Frau im Gewand Christi, bärtig und gekreuzigt.
Vor allem Jesus interpretiert Madame Tricot gerne mit der Nadel um: «Ich habe Jesus vom Kreuz genommen, ihm einen Pullover und eine Mütze gestrickt und ihn zu einer Klimademo zu Greta Thunberg geschickt.» Auch Alexei Nawalny ist für Madame Tricot eine Art Jesusfigur. «Sein Tod hat mich sehr berührt. Ich habe alles stehen und liegen gelassen und angefangen, einen Pullover zu stricken», erzählt sie.
Stricken als Meditation
Für Madame Tricot ist Stricken auch Therapie. Wie das? Sie hat schon immer meditiert. Aber das lange Stillsitzen sei nichts für sie. «Ich muss mich bewegen, wenn ich meditiere», sagt sie. So sei sie zum Stricken gekommen. Gerade wenn es ihr seelisch nicht gut gehe, greife sie zur Nadel. Das rhythmische Stricken mit beiden Händen überträgt sich auch auf ihr Inneres. «Es ist, als ob sich mein Inneres dadurch synchronisiert und dann wieder zusammenfügt», sagt sie. Wie bei einem Reissverschluss. «Stricken», betont sie immer wieder, «ist für mich wie Meditation.»
Stricken lindere auch Schmerzen. «Durch eine chronische Borreliose habe ich immer wieder Nervenentzündungen. Wenn ich mich ganz auf das Stricken fokussiere, kann mich der Schmerz nicht überwältigen», sagt sie.
Herz aus Schoppelwolle
Auf dem grossen Screen in der Kirche tauchen Salami, Blumenkohl und Spargeln auf. Täuschend echte Häppchen, denn sie sind gestrickt. Diese raffinierte Strick-Art hat die Wilerin zum Star der internationalen Strickkunstszene gemacht. Ihre gestrickten Fleischwaren seien eine Hommage an eine Boucherie im Montmartre in Paris, wo sie aufwuchs. «So manche Leber, Niere und Zunge strickte ich nach.» Und auch ein grosses Herz. Auf dem Screen sehen die Gäste ein anatomisch korrekt gestricktes Herz aus Schoppelwolle.
Es gibt noch viele Ideen und Projekte, die Madame Tricot mit Nadel und Faden umsetzen möchte. Sie wird weiter die Gemüter erregen. Die Künstlerin sagt: «Ich mache meine Kunst so, wie ich sie in mir fühle, und nicht so, wie die Leute sie gerne sehen würden.»
Madame Tricot: Kritik im Rhythmus der Stricknadel