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«Man spürt das grosse Potenzial der Kirche»

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13.09.2022
Klimakrise oder Kriege – die Kirchen müssten ihre Verantwortung zur Lösung grosser Probleme wahrnehmen. Das sagt Rita Famos am Gipfeltreffen der christlichen Kirchen in Karlsruhe.

Frau Famos, Wie haben Sie die Vollversammlung des Ă–kumenischen Rats der Kirchen (Ă–RK) erlebt?
Intensiv und auf unterschiedlichen Ebenen: Da ist zum einen der offizielle Versammlungsteil. Hier wird versucht, all die Themen, die von 350 Kirchen aus der ganzen Welt eingebracht werden in ein Schlussdokument zu bringen. Die Delegierten müssen Prioritäten setzen, damit am Ende des Treffens eine tragfähige Schlusserklärung verabschiedet werden kann. Darin wird festgehalten, bei welchen Themen sich die Kirchen bis zur nächsten Vollversammlung in acht Jahren besonders engagieren wollen. Das ist sehr anspruchsvoll. Auf der anderen Seite pflegen wir hier die informellen Kontakte, die sehr bereichernd und wichtig sind für unsere Kirchenbeziehungen. Und die dritte Ebene bilden die gemeinsamen Gebetszeiten, die schlicht inspirierend und ein geistliches Erlebnis sind. 

Welche Themen standen bisher beim Ă–RK im Fokus?
Die Klimakrise ist eines der Hauptthemen. Es sind viele junge Menschen am Treffen, weil die Kirchen aufgefordert waren, junge Delegierte zu entsenden. Jung heisst übrigens am ÖRK unter 30-jährig. Diese jungen Menschen aus der ganzen Welt fordern ein, dass wir die Verantwortung für die Schöpfung wahrnehmen. Der Palästina-Konflikt steht ebenfalls auf der Agenda. Weil der ÖRK dieses Mal in Europa stattfindet, ist der Krieg in der Ukraine ein dominantes Thema. Aber auch das Thema Rassismus oder Forderungen der indigenen Völker werden von Betroffenen eindrücklich eingebracht. 

Es sind sowohl eine Delegation der russisch-orthodoxen als auch der ukrainisch-orthodoxen Kirche hier. Wie haben Sie dieses Zusammentreffen erlebt?
Die Russen sind immer noch da – was nach der deutlichen Kritik von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an der Eröffnungsfeier nicht selbstverständlich ist. Die russische Delegation musste sich – zurecht – erhebliche Kritik anhören, weil das Moskauer Patriarchat diesen Krieg theologisch rechtfertigt. Bundespräsident Steinmeier war sehr direkt und hat den Russen Blasphemie vorgeworfen. Inhaltlich fand ich die Schärfe seiner Ansprache angebracht. Ich hätte es allerdings begrüsst, wenn Steinmeier nicht nur die ukrainische Delegation willkommen geheissen hätte, sondern auch die russische.

Haben Sie mitbekommen, ob die beiden Delegationen ausserhalb des offiziellen Programms Kontakt haben?
Ja, das haben sie. Bemerkenswert finde ich, dass die beiden Delegationen bis vor drei Jahren ja noch in der gleichen Kirche waren. Die Leute kennen sich, haben teilweise miteinander studiert. Also sitzen sie am Abend auch zusammen und trinken ein Bier. Mir wurde von verschiedener Seite bestätigt, dass inoffiziell einiges läuft. Dass hinter den Kulissen dieser Kontakt besteht, dass sie miteinander sprechen, das wird hier wahrgenommen, und das ist ein Hoffnungsschimmer.

Am Ă–RK scheint also die inoffizielle Ebene ein zentraler Teil zu sein.
Ja, es ist wichtig, was bei all den inoffiziellen, zum Teil spontanen Kontakten passiert. Gestern setzte sich beispielsweise beim Mittagessen eine Südkoreanerin zu mir und erzählte mir von ihrem Einsatz für die Wiedervereinigung Koreas. Am Abend sprach ich mit der Moderatorin der presbyterianischen Kirche Malawi und deren Kampf gegen Korruption. Heute hatten wir im SwissHub ein Gespräch mit zwei Vertretern aus Libanon. Da eröffnen sich buchstäblich Welten. Und man spürt hier den Reichtum und das Potenzial der Kirche. Alle stehen wir vor Herausforderungen. Die einen kämpfen mit Mitgliederschwund und der zunehmenden Säkularisierung, die anderen arbeiten in Kriegs- und Krisengebieten. Und in vielen Teilen der Welt – zum Beispiel in Asien – wachsen die christlichen Gemeinden.

Wo wird die liturgische Arbeit der Kirchen hier in Karlsruhe sichtbar?
Etwas, das mich hier extrem begeistert sind die gemeinsamen Morgenandachten mit den Glaubenden aus aller Welt. Hier kommen alle liturgischen und musikalischen Traditionen zusammen. Die weltweite Gemeinschaft vor Gott ist unmittelbar erlebbar. Sowohl Musik als auch Texte sind vom ÖRK-Gottesdienstteam sehr sorgfältig ausgearbeitet. 

Welche Rolle nimmt die Schweiz am Ă–RK ein?
Als Land mit dem Sitz des ÖRK und des ökumenischen Instituts in Bossey haben wir eine besondere Stellung. Allerdings sind wir mit drei Delegierten eine kleine Vertretung. Die Schweiz und andere reiche europäische Länder sind mit vielen Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert. Zuweilen ist es bedrückend, wenn man diese Kirchen aus weniger gut situierten Ländern sieht, und mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben. Jedes dieser Länder will die Chance nutzen, hier gehört zu werden.

Und was tun die reichen Länder konkret, ausser zuhören?
Eine unserer Aufgaben ist es, die kirchlichen Hilfswerke gut aufzustellen. Es können nicht alle alles machen. Es ist zielführender, wenn die reichen Länder ihre Hilfe gut koordinieren. Es gibt Länder, in denen alle helfen wollen – im Moment ist das die Ukraine. Und Länder wie Äthiopien, die darob etwas vergessen gehen. Am ÖRK versuchen wir, allen Gehör zu verschaffen. Andererseits ist es auch äusserst ermutigend zu sehen, wie die Kirchen in ärmeren Ländern mit fast nichts den Menschen Oasen der Hoffnung sind und sie diakonisch unterstützen. In Ländern, in denen die politischen und sozialen Systeme versagen, sind die Kirchen oft die einzigen verlässlichen Institutionen für die Menschen. 

Es gibt Länder, in denen die christlichen Gemeinden wachsen. Können Sie davon etwas für die Zukunft der Schweizer Kirchen mitnehmen?
Das ist etwas zwiespältig. Denn dort, wo die christlichen Kirchen wachsen, wie zum Beispiel in Afrika oder Lateinamerika, sind es häufig die konservativen Strömungen, die Zuwachs haben. Das macht uns in Europa etwas Sorgen. Wir möchten die theologische Offenheit bewahren. Die Würde aller Menschen, Mann oder Frau, homo- oder heterosexuell, mit und ohne Behinderungen ist in unserer Theologie fest verankert. Und das soll im ÖRK weiterhin eine Mehrheitsposition bleiben.

Sie haben das Thema Gleichstellung angesprochen: Am Ă–RK sind die Frauen in der Minderheit. Nur gerade 35 Prozent der Delegierten sind Frauen. Reicht das?
Wir sind ganz sicher nicht dort, wo wir sein sollten. Aber man muss bei diesem Thema die positive Entwicklung sehen: Im Vergleich zu den beiden letzten Weltkirchengipfeln sind deutlich mehr Frauen und jüngere Menschen in Entscheidungsfunktionen mit dabei. Die Kirchen unterscheiden sich dabei stark. In der orthodoxen Welt gibt es kaum Frauen. In der reformierten Welt dagegen prägen sehr viele starke Frauen die Kirche. Insgesamt stimmt die Richtung. 

Was muss passieren, damit vom ÖRK in Karlsruhe nicht nur schöne Worte, sondern konkrete Ergebnisse bleiben?
In der Schlussresolution müssen konkrete Ziele verankert werden. Zum Beispiel: Dass die Kirchen eine grosse Verantwortung beim Thema Klima haben und diese auch übernehmen. Wir haben grosses Potenzial: Die Religionsgemeinschaften haben gerade ausserhalb von Europa einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft. Gleich verhält es sich bei der Friedensarbeit. Ich finde, hier darf man durchaus würdigen, was die deutsche Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg oder vor der Wiedervereinigung für eine wichtige Rolle gespielt hat.

Was können die christlichen Kirchen in Bezug auf den Ukraine-Krieg bewirken?
Der ÖRK und seine Vollversammlung können diesen Krieg nicht beenden. Es wäre naiv, das zu denken. Aber wir können mithelfen, dass auch diejenigen, die in Russland gegen das Regime und dessen Kriegstreiberei sind, hier durch uns eine Stimme erhalten, und die russische Delegation sich das anhören muss. Und wir können uns zusammentun in der humanitären Unterstützung der Ukraine. Eindrücklich klingt in mir der Appell eines ukrainischen jungen Beobachters: «In euren Köpfen darf dieser Krieg nicht zur Normalität werden. Lasst uns nicht allein im Widerstand gegen dieses totalitäre Regime.»

Was nehmen Sie persönlich vom ÖRK mit in die Schweiz?
Ich habe spirituelle Highlights erlebt bei diesen grossen, gemeinsamen Gottesdiensten. Ich habe viel Ermutigendes gehört von Glaubensgeschwistern, die sich mit dem, was ihnen zur Verfügung steht, einsetzen in ihren krisengeschüttelten Ländern. Ich konnte viele wertvolle Kontakte knüpfen, auf denen wir unsere Beziehungen weiterbauen. Und trotz all unseren Verschiedenheiten dienen wir dem einen Christus und haben einen starken Willen zusammenzubleiben.

Interview: Constanze Broelemann und Mirjam Messerli, reformiert.info

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