Marc Chagall: Meister des himmlischen Blaus
Unzählige Blautöne tauchen die spätgotische Hallenkirche in ein mystisches Licht. Eingebettet in die blauen Fenstergläser sind Figuren in leuchtendem Gelb, Rot und Grün: Adam und Eva im Paradies, Noah und der Regenbogen, König David mit der Leier... Es sind die Fenster von Marc Chagall, die jedes Jahr rund 200'000 Besucherinnen und Besucher nach St. Stephan in Mainz locken.
Sie waren das letzte grosse Werk des russisch-französischen Malers: Vor 40 Jahren, am 28. März 1985, ist Chagall im Alter von 97 Jahren gestorben.
«Das Blau als Farbe des Himmels strahlt Ruhe aus und vermittelt eine Ahnung von dem unergründlichen Gott», so beschrieb der frühere katholische Pfarrer von St. Stephan, Klaus Mayer (1923–2022), die Wirkung der Fenster. Chagall habe seine Kunst «supranatural» genannt, sie lasse «im Sichtbaren Unsichtbares erleben, im Zeitlichen Ewiges».
Mayer, der als Sohn eines jüdischen Kaufmanns die Nazizeit versteckt von Katholiken überlebte, hatte den jüdischen Künstler im hohen Alter für das Werk gewonnen. Chagalls Fenster für die im Zweiten Weltkrieg zerstörte und danach wiederaufgebaute Kirche sind nach den Worten Mayers ein Zeichen des Friedens und der jüdisch-christlichen Verbundenheit.
Chagall in der Schweiz
Auch in der Schweiz begegnet man Chagalls Werken: Im Kunstmuseum Basel hängen bedeutende Frühwerke, darunter drei auffällige Porträts alter Juden – «Jude in Rot», «Jude in Schwarz-Weiss» und «Jude in Grün». 1970 schuf Chagall für das Fraumünster in Zürich fünf Fenster mit biblischen Motiven, die jährlich Tausende anziehen. 2023 kamen rund 153'000 Besucher.
Die Beliebtheit der Motive Chagalls auf Postkarten und Plakaten hält auch 40 Jahre nach dem Tod des Künstlers unvermindert an: das Liebespaar, Braut und Bräutigam, ein Engel, ein Blumenstrauss oder Tiere. Alles in leuchtenden Farben, figürlich zu erkennen, aber wie in der Schwebe, in eine Traumwelt enthoben.
Zeuge der Kathastrophen des 20. Jahrhunderts
Chagall selbst lebte in starkem Kontrast zu einer Traumwelt, er durchlitt die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Auch davon gibt sein Werk Zeugnis. Im jüdischen Schtetl der heute belarussischen Stadt Witebsk 1887 als Moische Schagal geboren, wächst er in einer gläubigen Familie mit acht Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf.
Schon als Jugendlicher nimmt Chagall Malunterricht und studiert Kunst in der damaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg. Während eines Paris-Aufenthalts 1911 bis 1914 saugt er die künstlerischen Aufbrüche der französischen Avantgarde auf. Doch von einem Heimatbesuch kann er nicht wieder nach Paris zurückkehren: Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen. Das Glück erlebt Chagall im Privaten, 1915 heiratet er seine grosse Liebe Bella Rosenfeld (1895–1944). Nach der Oktoberrevolution wird er Kommissar der Künste, verlässt aber infolge von Konflikten 1922 das Land und zieht über Berlin mit seiner Familie nach Paris.
Künstlerisch verbindet er in unverwechselbarer Weise Impulse aus der Avantgarde-Kunstströmung Fauvismus zu Beginn des 20. Jahrhundert, die sich durch expressive Farben auszeichnet, und aus der Formensprache des Kubismus mit Motiven seiner Heimat in Witebsk. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 werden Chagalls Werke in Deutschland diffamiert, zerstört oder ins Ausland verkauft. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, gelingt Marc und Bella Chagall 1941 die Flucht in die USA. Bella stirbt infolge einer Infektion 1944, Marc kehrt 1948 nach Frankreich zurück.
Der jüdische Maler und Jesus Christus
Die Schrecken der Zeit spiegeln sich etwa in Chagalls Werk «Der Engelsturz», das er in drei Fassungen 1923, 1933 und 1947 schuf: Aus dem schwarzen Nachthimmel stürzt kopfüber ein roter weiblicher Engel, den Mund aufgerissen. Ein Mann schützt eine Thorarolle, eine Kuh blickt angstvoll nach oben, eine Mutter birgt ein Kind in den Armen, fast unscheinbar am Rand steht ein Gekreuzigter. Der jüdische Maler entdeckt in ihm, dem zentralen Gegenstand christlicher Verehrung, das Sinnbild für die verfolgten und ermordeten Juden schlechthin.
Chagall schuf ab den späten 1930er Jahren zahlreiche Bilder des Gekreuzigten. Es ist dieser Brückenschlag im Leid zwischen den Religionen, der den damaligen Pfarrer von St. Stephan zu Chagall zog, zumal Klaus Mayer diesen Brückenschlag selbst in seiner Biografie verkörperte. Auch im Chor der Mainzer Kirche ist der Gekreuzigte zu sehen, er steht auf einem der Fenster direkt über König David von Israel. Der von dem jüdischen Künstler geschaffene Zusammenhang erinnert an den ersten Vers des christlichen Neuen Testaments, der die «Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids» ankündigt.
Glasfenster von Chagall sind in Sakralbauten in mehreren Ländern zu sehen, etwa in der Kathedrale Notre Dame in Reims oder in der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem. Marc Chagall starb 1985 im südfranzösischen Saint-Paul-de-Vence bei Nizza. In Nizza bewahrt das Nationalmuseum Marc Chagall das Andenken an den Maler, der jüdischen Glauben mit Offenheit und der Kunst der Moderne verband.
(nin)
Marc Chagall: Meister des himmlischen Blaus