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Martin Stingelin: «Ich hoffe, dass wir weiterhin Landeskirche sein können»

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20.12.2019
Kirchenratspräsident Martin Stingelin tritt nach zehn Jahren zurück. Im Interview spricht er über Erfolge und Enttäuschungen und wirft einen Blick in die Zukunft.

Herr Stingelin, mit welchen Gefühlen treten Sie als Kirchenratspräsident zurück?
Ich habe die Zeit als Kirchenratspräsident sehr positiv erlebt, die vielen Möglichkeiten, Menschen kennen zu lernen und mit ihnen unterwegs zu sein. Es war eine reiche Zeit, die nun zu Ende geht. Gerne hätte ich das eine oder andere Geschäft noch weiter vorangetrieben. Aber es gibt nie den Moment, wo alles abgeschlossen ist. Ich freue mich nun auf die Entlastung und darauf, meine Zeit freier gestalten zu können.

Die Universität Basel hat Ihnen Ende November den Ehrendoktortitel verliehen. Ist das die Krönung Ihres Kirchenlebens?
Ich freue mich sehr über die Ehrung, als Krönung sehe ich es nicht. Sie ist für mich die Bestätigung, dass wir als Kirche aus der Sicht der Universität anscheinend doch vieles gut machen. Doch der Höhepunkt meines Berufslebens ist die Ehrung nicht. Die befriedigendste Zeit erlebte ich als Gemeindepfarrer in Reigoldswil und Titterten.

Sie verbrachten 15 Jahre im Gemeindepfarramt. Was lockte Sie am Amt des Kirchenratspräsidenten?
Ich war dazwischen noch Co-Leiter des Pfarramts für Industrie und Wirtschaft. Der Wechsel vom Gemeinde- ins Industriepfarramt lockte mich. Das Gemeindepfarramt besteht aus 80 Prozent Pflicht und 20 Prozent Kür. Im Industriepfarramt ist es umgekehrt. Man kann die Arbeit relativ frei gestalten und selber Schwerpunkte setzen. Diese neue Herausforderung lockte mich. Es zeigte sich jedoch, dass dieses Amt nicht für mich geschneidert war. Ich brauche Herausforderungen. Ich habe im Industriepfarramt für die Arbeit als Kirchenratspräsident vieles gelernt.

Was verstehen Sie unter Pflicht und Kür?
Eigene neue Projekte gestalten und entwickeln gehört zur Kür. Im Einzelpfarramt ist nicht allzu viel möglich. Das Pflichtprogramm, dass mindestens so schön ist, sind Gottesdienst, Seelsorge und Kasualien, wie die Beerdigungen.

Beerdigungen gibt es immer mehr. Ist das nicht belastend?
Ja. Es kann einem sehr nahegehen und man muss versuchen, sich abzugrenzen. Erlebt man aber, wie froh und dankbar die Trauernden sind, dass jemand ihren Verlust in Worte fasst und sie in diesem Prozess unterstützt, bekommt man viel geschenkt. Man erlebt, dass die Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer wichtig ist.

Wie steht es mit der Kür im Kirchenratspräsidium?
Die Kür ist begrenzt. Zur Kür gehört etwa das Präsidium des Ökumenischen Seelsorgediensts für Asylsuchende OeSA oder der Heks-Stiftungsrat.

Besteht die Gefahr, dass man sich als Kirchenratspräsident zu weit von den Kirchenmitgliedern entfernt?
Ja, doch dies kann auch im Pfarramt passieren. Man kann örtlich nahe bei den Menschen sein und sie und ihre Anliegen trotzdem kaum wahrnehmen.  Es ist wichtig, dass das Kirchenratspräsidium den Kontakt zu den Menschen pflegt. Ob mir dies gelungen ist, müssen andere beurteilen. Die Gefahr, dass die kirchlichen Verantwortlichen in einem Elfenbeinturm leben, besteht permanent.

Sie haben die reformierte Kirche Baselland zehn Jahre lang geleitet. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Die Kirche hat an gesellschaftlicher Bedeutung eingebüsst. Die Mitgliederzahlen sind in den letzten acht Jahren um zehn Prozent zurückgegangen. Es genügt immer weniger, als Kirche einfach da zu sein. Eine Pfarrperson ist heute nicht mehr automatisch in der Gemeinde eingebunden. Sie muss auf die Menschen und Institutionen zugehen, präsent sein und Vernetzungsarbeit leisten.

Es gab auch in Ihrer Amtszeit finanzielle Schwierigkeiten.
Ja. Die Probleme mit der Pensionskasse zeigten, wie schnell sich die Finanzen ändern können. Dadurch rückte die Kirche näher zusammen. Wir merkten, dass wir miteinander Lösungen finden und miteinander aufbrechen müssen. Dies war bei allem Negativen eine positive Entwicklung und führte dazu, Strukturen zu hinterfragen.

Was haben Sie als Kirchenratspräsident erreicht?
Nach zehn Jahren Diskussionen konnten wir die Stellung der kirchlichen Mitarbeitenden klären. Es ging zum Beispiel um die Frage, ob Pfarrpersonen in der Kirchenpflege stimmberechtigt sein sollen, oder um die Stellung der Sozialdiakone. Wir konnten diese Fragen so lösen, dass alle gut miteinander arbeiten können. Dann die Pensionskasse: Unser Verdienst war es, dass wir 30 Prozent bei den Ausgaben sparen konnten, ohne dass es zu grossen Konflikten gekommen ist. Schliesslich die Visitation: Wir starteten gegen Widerstände, schafften es aber, für die Durchführung gute Leute zu gewinnen. Der Kirchenrat hielt sich bewusst heraus. In der Folge stellten wir in relativ kurzer Zeit eine neue Verfassung auf die Beine, die nächstes Jahr zur Abstimmung kommt. Bereits liegen die Kirchen- und Finanzordnung im Rohentwurf vor.

Welches Projekt lag Ihnen besonders am Herzen?
Die grossen Projekte werden einem übergestülpt, man muss sie anpacken. Besondere Freude bereiteten mir die kleinen, freiwilligen Engagements, etwa das Präsidium bei der OeSA. Diese Institution und ihre Arbeit sind mir ans Herz gewachsen. Ich war auch gerne Heks-Stiftungsrat. Soziale Projekte sind mir ein grosses Anliegen.

Gab es Rückschläge?
Immer wieder. Ich hatte die Hoffnung, ich könne gesamtschweizerisch mehr ausrichten. Aber hier bewegt sich nach meiner Meinung kaum etwas. Enttäuschend war es für mich, wenn ich persönlich angegriffen wurde, wenn mir der Glaube abgesprochen wurde. Darauf reagiere ich sehr sensibel. Es gibt immer wieder Leute, die den Glauben in Frage stellen, wenn man anderer Meinung ist. Damit hatte ich schon als Gemeindepfarrer Mühe. Aber in der Regel pflegten wir einen wertschätzenden Umgang.

Wie ist das Verhältnis zwischen Kanton und Kirche in Baselland?
Zurzeit haben wir ein gutes Verhältnis zum Kanton. Dies hängt auch damit zusammen, dass auf kantonaler Ebene Leute arbeiten und gewählt sind, die den Landeskirchen nahestehen. Es ist wichtig, dass man miteinander im Gespräch ist. Wir sind finanziell ein Stück weit vom Kanton abhängig, übernehmen aber auch gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Gleichzeitig sind wir ein Gegenüber zum Kanton. Regierungsrat und Kirchendirektor Anton Lauber hat bei verschiedenen Gelegenheiten klar gesagt, dass die Kirche auch ein Wächteramt innehat und den Auftrag, allenfalls auch kritisch zu sein gegenüber der Politik.

Die Kirchen im Kanton Baselland erhalten einen Kantonsbeitrag und die Unterstützung der Regierung sowie Firmensteuern. Sind sie privilegierter als die Kirchen in Basel-Stadt?
So würde ich das nicht sagen. Man kann das Ganze auch umdrehen. Nehmen wir die Steuern der juristischen Personen. Was macht der Kanton, wenn diese wegfallen? Dann könnten die Kirchen viele Leistungen, gerade im Sozialbereich, die mit diesen Steuern finanziert werden, nicht mehr wahrnehmen. Diese Leistungen haben aufgrund der Freiwilligen einen wesentlich höheren Wert als die Steuereinnahmen. Es geht nicht um Privilegien, sondern um die Verantwortung, die wir aufgrund dieser Zahlungen erhalten und wahrnehmen. Solange diese Gelder fliessen, muss unsere Kirche weiterhin eine Kirche für die Gesellschaft und auch Landeskirche sein. Es geht nicht an, sich nur auf die Mitglieder zu beschränken. Wir haben einen gesellschaftlichen Auftrag, den es zu erfüllen gilt.

Sie haben gesagt, dass Sie keine Angst um die Zukunft der Kirche haben. Wie wird die Baselbieter Kirche in zehn Jahren aussehen?
Ich bin kein Prophet, aber in zehn Jahren wird, so hoffe ich, noch vieles sehr ähnlich sein wie heute, zumindest auf den ersten Blick. Anstatt 35 Kirchgemeinden gibt es dann vielleicht noch 28. Aber in den Ortschaften wird die Kirche immer noch präsent sein. Die Kirche wird zusammenrücken und es wird Optimierungen geben. Ich hoffe aber, dass wir weiterhin Landeskirche sein können. Dafür stehen die Zeichen gut. So spricht zurzeit nichts dafür, dass der Religionsunterricht aus den Schulen gedrängt wird. Und wir werden in zehn Jahren auch noch Fachstellen haben, die an gesellschaftlichen Themen arbeiten.

Werden die Fachstellen nicht sogar noch wichtiger im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Kirche?
Gesamtgesellschaftliche Leistungen erbringen auch die Kirchgemeinden. Fachstellen können hier zu Multiplikatoren werden und die Arbeit in den Kirchgemeinden unterstützen. Wir müssen zwar themenorientiert arbeiten, aber auch flächenorientiert. Denn wenn die Kirche vor Ort abbricht, löst das eine Lawine aus. Da muss man eine Balance finden.

Sie übernehmen ab Januar das Präsidium der Geschäftsleitung des Kirchenboten. Freuen Sie sich auf dieses Amt im Medienbereich?
Ich freue mich, es ist eine spannende Herausforderung. Ich bin überzeugt, dass die Kommunikation mit den Mitgliedern für die Kirche wesentlich ist. Die Kirche kann über den Kirchenboten direkt mit ihren Mitgliedern kommunizieren. Gleichzeitig ist die Redaktion journalistisch unabhängig. Das ist eine Gratwanderung, die dem Kirchenboten im Moment gelingt.

Welche Rolle spielt der Kirchenbote in der Gesellschaft?
Ich finde, dass die Kirche generell gar nicht schlecht in den Medien präsent ist, wenn auch nicht immer positiv. Ich meine nicht, dass der Kirchenbote immer positiv berichten muss, aber konstruktiv kritisch. Ich erwarte – und dies macht der Kirchenbote – eine sachliche Aufbereitung von gesellschaftlichen Themen, welche die Leserinnen und Leser interessieren. Daneben ist der Kirchenbote einer der wenigen Anknüpfungspunkte für Mitglieder, die am Sonntag nicht in die Kirche gehen, durch die Lektüre dennoch einen Kontakt zur Kirche haben. Mit dem Abnehmen der Kirche als wichtige gesellschaftliche Institution ergibt sich für den Kirchenboten eine Herausforderung.

Was erwarten Sie?
Dass der Kirchenbote gesellschaftliche Themen aufnimmt und sich klar positioniert. Ein Thema kontradiktorisch aufzugreifen ist ebenfalls gut. Es darf aber auch durchschimmern, was die Journalisten oder Gremien denken. Ich erwarte einerseits Kontinuität, andererseits die Weiterentwicklung des Onlineportals, das weitere Kreise anspricht.

Interview: Karin Müller, 20. Dezember 2019

Ehrendoktor für Martin Stingelin

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