Meditieren im Online-Kloster
Der Weg zu meiner Klosterzelle ist kurz: Vom Schlafzimmer über den Flur ins Büro, ein Klick auf den Zoom-Link auf dem Bildschirm des MacBooks – schon bin ich im Netzkloster. Das Online-Kloster bietet über den Tag verteilt regelmässige gemeinsame Meditationen.
Meditation und Kloster assoziiert man mit Achtsamkeit und innerer Einkehr – kurz, mit dem Offline-Modus. Steht ein Online-Kloster nicht im Widerspruch zu allem, was Spiritualität bedeutet? Auf den ersten Blick vielleicht, antwortet Netz-Abt Simon Weinreich auf der anderen Seite des Bildschirms, doch das Netzkloster sei ein digitaler Raum für analoge Meditation und Achtsamkeit. «Menschen sind von Natur aus analog, und wir meditieren oder beten analog. Im Netzkloster nutzen wir digitale Möglichkeiten, um einen kontemplativen Lebensstil zu pflegen.»
Kloster in Anführungszeichen
Bis zu viermal täglich kann man so online eine stille Pause einlegen. Ora et labora, der monastrische Wechsel zwischen Beten und Arbeiten, wird auch im Netzkloster gelebt. Wie viel Kloster steckt sonst noch im Online-Format? Es sei ein Kloster in Anführungszeichen, meint Weinreich. Vieles, was es in «richtigen» Klöstern gibt, fehlt hier, wie etwa das Ordensgelübde. Doch es gibt auch Verbindendes, etwa die regelmässigen Tagzeitengebete wie Sext, Laudes oder Komplet. «Die Idee ist, Menschen zusammenzubringen, die kontemplative Spiritualität leben und in den Alltag integrieren wollen. Wir merken, wie hilfreich es ist, mit anderen verbunden zu sein und nicht allein zu meditieren», sagt Weinreich.
Meditation und Spiritualität, das klingt für eine Onlinerin wie mich eher fremd. Ich nehme mir vor, meine verkümmerten analogen Synapsen zu aktivieren, wenn anschliessend meine erste Meditation beginnt. Ohne regelmässige Übung sei das nicht so einfach, prophezeit Weinreich. Man schweife schnell ab, plane die Zukunft oder sinniere über die Vergangenheit. Doch es gehe darum, im Moment zu sein.
Meine Feuertaufe als Novizin ist die Sext, die Mittagsmeditation. Per Zoom schalte ich mich ein. Weinreich begrüsst uns am Bildschirm. Die einen sitzen zu Hause, andere draussen in der Sonne oder im Büro. Nach einem kurzen Bibelwort schlägt der Netz-Abt einen Gong. Dann herrscht 20 Minuten Stille. Die Mikrofone sind aus, die Kameras bleiben an. «Wenn alle die Bildschirme abschalten würden, wäre ja wieder jeder für sich», hatte Weinreich erklärt. Ich schliesse die Augen, blinzle aber ab und zu, um zu sehen, was die anderen tun, ob sie überhaupt noch da sind. Mein Netzbrüder und -schwestern wirken andächtig versunken oder kneifen konzentriert die Augen zusammen; jemand scheint zu beten.
Die Gedanken zu beruhigen, fällt mir nicht leicht. Ich versuche einen Trick, den ich mal gelesen habe: «Betrachten Sie die Gedanken als vorbeiziehende Wolken und lassen Sie diese schnell wieder los», stand da. Ich denke darüber nach, dass aktives Entspannen anstrengend ist, und schiebe auch diese Wolke schnell weg. Langsam wird mir heiss und ich spüre, wie mein Gesicht rot wird. Plötzlich ertönt der Gong, die 20 Minuten sind schneller vorbei als erwartet.
Unabhängig von Glaube oder Kirchenmitgliedschaft
Das Netzkloster ging während der Coronapandemie Ende 2020 online. Es ist ein überkonfessionelles Angebot der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz. Ab Januar 2025 beteiligt sich auch die reformierte Landeskirche Zürich. Simon Weinreich, seit 2022 dabei, ist nebenbei ganz analog reformierter Pfarrer in Illnau-Effretikon.
Anfangs waren es wenige, inzwischen haben 45 Menschen ein Jahresabo, um quasi im Flatrate-Tarif zu meditieren. 20 weitere sind für den Meditationskurs angemeldet. Das Kloster steht allen offen, unabhängig von Glauben oder Kirchenmitgliedschaft. Man braucht nur ein internetfähiges Gerät, so Weinreich.
Für das zweite Tagzeitengebet wähle ich die Morgenmeditation. Eine Frau führt diesmal die 12 Teilnehmenden durch die Laudes um halb acht. Nach den einleitenden Worten (Gong) und der Stillephase (Gong) sagt die Meditationsleiterin: «Wir gehen schweigend.» Das abrupte Ende irritiert mich. Ich will schon auf «Meeting verlassen» klicken, als ich sehe, dass die anderen aufstehen und umherlaufen. Also mache ich es ihnen nach und drehe ebenfalls meine Runden im kleinen Büro. Dabei behalte ich den Bildschirm im Auge, um den Anschluss nicht zu verlieren – Gong! Wieder folgt eine sitzende Stille, es fällt mir zunehmend schwer, die Gedankenwolken wegzuschieben. Nur nicht darüber nachdenken, wie ich meinen Artikel darüber schreibe, dass ich nicht nachdenken soll.
Der Schlussgong reisst mich aus meinen Gedanken. Draussen ist es mittlerweile hell. Ich fühle mich entspannt und messe neugierig meinen Puls. Er ist langsamer als gewöhnlich. Vielleicht wäre das Netzklosterleben doch etwas für mich, denke ich und öffne das Mailprogramm. Unzählige neue Mails werden angezeigt. Das war's dann auch schon wieder mit dem tiefen Puls.
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