Mehr als blosse Zeitmesser
Der Horner bringt sie, der Augsten nimmt sie, sagt ein volkstümliches Sprichwort. Ausgedeutscht: Der Januar bringt die Tage, der August nimmt sie. Tatsächlich liegt jetzt, in der zweiten Augusthälfte, bereits ein sanfter Anstrich von Herbst im Licht; die Tage werden merklich kürzer, die Schatten im goldenen Licht werden länger und modellieren die Landschaft plastischer. Vielleicht rückt einem bei diesem Spiel von Licht und Schatten wieder einmal die dekorative Sonnenuhr ins Bewusstsein, die am Rathaus, an der Kirche oder auf einem Sockel im Park angebracht ist: ein Zeitmesser, der wie kein anderer verdeutlicht, dass die Dauer unserer Jahre, Tage und Stunden vom Lauf der Sonne bestimmt werden. Gerade an sakralen Bauten hat die Sonnenuhr ihren angestammten Platz, diente sie doch in den Klöstern des Mittelalters dazu, den Tag sichtbar zu gliedern und die Gebetszeiten der Mönche anzuzeigen.
Ein technisches Wunderwerk
Diese sogenannten kanonischen Sonnenuhren waren noch alles andere als exakt. Heute gibt es Präzisions-Sonnenuhren, die die Zeit in jedem Monat minutengenau anzeigen und sich in Sachen Genauigkeit ohne Weiteres mit der Quarzuhr am Handgelenk messen können. Seit neun Jahren besitzt die bernische Kirchgemeinde Hindelbank ein solches astronomisch-technisches Wunderwerk. Es handelt sich um eine Bernhardtsche Sonnenuhr, benannt nach dem deutschen Techniker Martin Bernhardt (1919 – 2001), der seinen Zeitmesser aufgrund einer älteren britischen Erfindung konstruierte.
Sonnenuhren dieses Typs können als Rarität gelten, wurden bisher weltweit doch nur etwa 150 Stück angefertigt. Die Apparatur, ausgeführt in teils sandgestrahltem, teils poliertem Stahl, ähnelt der abstrakten Skulptur eines Vogels, der gerade zum Flug abhebt. Die Skala zum Ablesen der Stunden und Minuten ist halbkreisförmig um die Flügel angeordnet; in der Mitte sitzt ein flaschenförmiger Rumpf als Schattenwerfer. Dort, wo sich die vorauseilende Schattenlinie auf der Skala jeweils befindet, wird die Zeit abgelesen. Zweimal im Jahr, nämlich zur Sommer- und zur Wintersonnenwende, muss der Schattenwerfer der Saison entsprechend ausgewechselt werden.
Die Sonne festbinden
In Hindelbank wird der Walzenwechsel von Pfarrer Christian Adrian eigenhändig ausgeführt, im Sommer jeweils im Rahmen eines Gottesdienstes, der gleich bei der Uhr im Freien stattfindet. Adrian ist in Lateinamerika geboren und aufgewachsen; er weiss aus erster Hand um die religiöse Verehrung, die die indianischen Völker der Sonne einst entgegenbrachten, und berichtet von einem Steinmonument in der Inkastadt Macchu Picchu, an dem vor Jahrhunderten die dortigen Priester-Astronomen die Sonne rituell quasi festbanden, auf dass sie nach dem sonnenarmen Halbjahr ganz sicher auch wieder erstarke.
Auch sonst ist der Pfarrer am Geschehen im Weltall und der Himmelsmechanik interessiert. Sein Wissen gibt er seit Jahren während eines mehrtägigen Unterrichtsblocks im kirchlichen Unterricht an die Jugendlichen weiter, unter dem Titel «Raumschiff Erde». In diesem Kontext kam er auf die Idee, dass die Kirchgemeinde zu Anschauungszwecken eigentlich eine moderne Sonnenuhr anschaffen könnte. Der Wunsch fand Gehör, ebenso Adrians Anregung, einen nicht mehr als Gräberfeld benötigten Teil des Friedhofs als kreisförmiges Labyrinth zu gestalten, mit einem Kiesrund im Zentrum, auf dem die Bernhardtsche Sonnenuhr steht.
Spirituelles Sinnbild
«Das Labyrinth symbolisiert den Lebensweg in seinem ungeraden und oft überraschenden Lauf, die Sonnenuhr steht für Gott, der das leuchtende Zentrum des Lebens bildet und auch die Zeit beherrscht», führt Adrian aus. Somit sei die Anlage ein spirituelles Sinnbild für Einbettung des Menschen in einen grösseren Zusammenhang, in die göttliche Schöpfung. Eine Texttafel vor dem Labyrinth informiert die Besucher über die Sonnenuhr und deren tiefere Bedeutung – und erwähnt am Schluss auch den liturgischen Segen: «Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir.» Diese Formulierung deute darauf hin, dass es sich bei diesen biblischen Worten im Grunde um einen Sonnensegen handle, erklärt Pfarrer Adrian.
Hans Herrmann, reformiert.info, 27. August 2018
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