Mehr Leben für die verbleibende Zeit
«Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben», zitiert die Seelsorgerin Leni Hug die Britin Cicely Saunders. Saunders war die Begründerin der Hospizbewegung und Pionierin in Sachen Palliative Care. Sie erkannte aus ihrem tiefen christlichen Glauben heraus, dass man die Menschen auf ihrem letzten Weg im Leben unterstützen muss. «Wenn es nichts mehr zu machen gibt, gibt es noch viel zu tun», ist ein anderer Leitspruch von Cicely Saunders.
Die Pionierzeiten der Palliative Care gehören der Vergangenheit an. In der Medizin hat ein Umdenken stattgefunden. Heute sind die meisten Ärzte und Spitäler davon überzeugt, dass Menschen, die nicht mehr geheilt werden können und deren Angehörige, eine besondere Betreuung brauchen.
Zusammenarbeit der Akteure
Viele Kliniken bieten Palliativstationen an. So auch das Kantonsspital Olten, in dem Pfarrerin Leni Hug arbeitet. Die Abteilung ist hell, freundlich und bunt. Ärzte, Pflegende und Patienten scherzen auf dem Gang, die Stimmung ist aufgeräumt. Wenig erinnert daran, dass hier das Schicksal zuschlägt und viele mit ihrer Endlichkeit konfrontiert werden. «Wir sind jedoch kein Sterbehospiz», erklärt Leni Hug. Hier konzentriert man sich auf die Bedürfnisse der Patienten und versucht ihre Schmerzen und Ängste zu lindern, ihre Probleme zu lösen und mögliche Wünsche zu erfüllen. Pauschalrezepte gebe es nicht, sagt Leni Hug. «Jeder stirbt seinen eigenen Tod.» Die einen leiden an Schmerzen, andere trauern oder hadern mit dem Schicksal. Andere wünschen sich nichts sehnlicher, als sich mit jemandem zu versöhnen oder wieder nach Hause zurückzukehren, auch zum Sterben. Bei der Palliative Care arbeiten verschiedene Akteure zusammen: Ärztinnen, Ärzte, das Pflegepersonal, der psychiatrische Dienst, die Seelsorgerinnen und Seelsorger, Spitex, Pflegeheime, Hausärzte und Freiwillige. Die palliative Pflege betrifft den ganzen Menschen und umfasst die körperliche, psychische, soziale und spirituelle Dimension. Bund und Kantone haben 2010 entschieden, Palliative Care in der Schweiz im Rahmen einer nationalen Strategie zu fördern. Um ein Konzept zu erarbeiten, hat der Kanton Solothurn eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Seit 2018 liegt dieses Konzept der palliativen Versorgung im Kanton vor. Ziel ist es, dass die Angebote allen Menschen bedarfsgerecht und in guter Qualität zur Verfügung stehen. Dass heute viele ambulant zu Hause versorgt werden, ist für die Palliative Care eine besondere Herausforderung.
Viele haben spirituelle
und existenzielle Fragen
Auch die Kirche ist eine Akteurin in diesem Konzept. «In der letzten Phase des Lebens stellen sich spirituelle und existenzielle Fragen», sagt Leni Hug. Man fragt sich, warum habe gerade ich diese Krankheit? Wie geht es weiter? Viele wollen einfach erzählen, wie ihr Leben verlaufen ist und was sie weitergeben wollen. Andere berichten von ihren Ängsten vor dem Tod.
Leni Hug hört zu und versucht zu helfen. Einige erklären, sie seien nicht religiös, aber im Gespräch wird der Glaube zum Thema. In Bildern schildern sie ihre Vorstellungen vom Leben nach dem Tod, etwa von einem Licht, das aufscheint, oder dem Ehemann, der wartet. Einer der Kranken erklärte der Seelsorgerin, er glaube nicht an ein Jenseits, aber falls es ein Leben nach dem Tod gibt, werde der Herrgott sicher ein Plätzchen für ihn bereithalten.
In der Zukunft werde die Bedeutung der Palliative Care noch zunehmen, ist Leni Hug überzeugt. Die Anzahl der Betagten und auch jüngerer Menschen mit einer chronisch fortschreitenden Erkrankung steige. «Wenn die Kirche dies wahrnimmt und sich mit all ihrer Kompetenz, Freiwilligen und langjährigen Tradition in der Seelsorge und Begleitung einbringt, wird dies eine Chance und wichtige Aufgabe für die Kirchen», so Hug.
Tilmann Zuber
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