«Menschen möchten wahrgenommen werden»
Udo Rauchfleisch, das ökumenische Kirchenforum widmet eine ganze Veranstaltungsreihe dem Thema «Sexualität und Geschlecht». Warum gerade das? Warum gerade jetzt?
Menschen, deren Geschlechtsidentität von der Mehrheitsgesellschaft abweicht, weht ein eisiger Wind entgegen. Trump oder die AfD behaupten, es gebe nur zwei Geschlechter, wodurch die individuelle Frage der Identität zu einem brisanten politischen Thema wird. Ich finde es sehr beispielhaft dafür, wie unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die nicht dem Mainstream entsprechen.
Gibt es denn biologisch mehr als zwei Geschlechter?
Im Tierreich gibt es keineswegs nur Männchen oder Weibchen. Manche Biologinnen und Biologen sprechen sogar von fünf oder mehr Geschlechtern. Die Natur ist vielfältig, und wir Menschen sind nochmals vielfältiger wegen der vielen sozialen Einflüsse, die unser Leben bestimmen.
Der Autor und Psychologe Udo Rauchfleisch ist Gründungsmitglied von «queerAltern» Region Basel. Zuletzt erschienen von ihm unter anderem die Bücher «Liebe ist bunt» und «Einsamkeit – Die Herausforderung unserer Zeit».
Das ökumenische Forum für Ethik und Gesellschaft ist ein Angebot der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde sowie der römisch-katholischen Pfarrei von Muttenz, Baselland. www.kirchenforum.ch
LGBTQAI – die queere Buchstabenliste scheint immer länger zu werden. Führen solche Labels nicht zu mehr Ausgrenzung?
LGBTQAI steht für Lesbisch-Gay-Bi-Trans-Queer sowie asexuell und intergeschlechtlich. Diese Labels sind wichtig, denn Menschen möchten benannt und wahrgenommen werden. Sie brauchen für ihre Identitätsentwicklung auch Räume, wo sie unter ihres Gleichen sind, wo sie sich nicht erklären müssen. Das gilt für alle Minderheiten, auch ethnische und politische: Wenn man den Rückhalt der Mehrheit nicht hat, muss man sich diesen selbst suchen.
Woher dieses Misstrauen?
Alles, was wir nicht kategorial zuordnen können, ist für unsere Gesellschaft schwierig zu akzeptieren. Unser Denken ist sehr binär angelegt. Wenn Gruppen klein sind, übersehen wir sie gern – vor allem, wenn sie die Öffentlichkeit nicht weiter berühren. Polarisierung entsteht dann, wenn diese Gruppen sichtbar werden und Rechte einfordern. Bei Transmenschen kommt dazu, dass sie an den Grundfesten unserer Gesellschaft rütteln.
Wie meinen Sie das?
Transpersonen zeigen, dass sich Rollen und Privilegien nicht durch das Geschlecht begründen lassen. Wenn traditionelle Geschlechterrollen infrage gestellt werden, bringt das sofort Irritation. Das sieht man schon, wenn ein Mann sich entscheidet, mit den Kindern zu Hause zu bleiben, anstatt Karriere zu machen.
Jugendlichen, die sich als transident beschreiben, werden oft sogenannte Pubertätsblocker verschrieben. Halten Sie das für verantwortungsvoll?
Praktisch alle erwachsenen Transpersonen sagen, die Pubertät sei die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen. Die Pubertät bringt irreversible Veränderungen mit sich: Die Jungs kommen in den Stimmbruch, den Mädchen wachsen Brüste. Wer später eine Transition machen will, kann diese körperlichen Veränderungen nicht einfach verändern. Pubertätsblocker sind keine Hormone, sondern sie unterbrechen einfach die Pubertät. Sobald sie abgesetzt werden, läuft die Pubertät normal weiter. Das schafft den Jugendlichen Zeit, sich mit Körper und Identität auseinanderzusetzen. Dieses Vorgehen wird übrigens auch von den Ethikräten gutgeheissen.
Heute ist medizinisch vieles möglich. Werden Betroffene zu Geschlechtsoperationen gezwungen?
Nein. Das war früher viel eher der Fall als heute. Ich erinnere mich an die Diskussionen in einer Arbeitsgruppe in den 1980er-Jahren: Wir sprachen über einen Mann, der keine genitale Operation, sondern nur Östrogene und einen Brustaufbau wollte. Die einhellige Meinung in der Arbeitsgruppe war, das komme überhaupt nicht infrage, entweder die ganze körperliche Angleichung an das weibliche Geschlecht oder gar nicht. Das spiegelt den Zeitgeist von damals wider und lag an der damaligen Diagnose «Transsexualismus», die an den Wunsch einer körperlichen Veränderung gebunden war. Heute wird das zum Glück lockerer gehandhabt. Wir sprechen von einer «Angleichung» an das empfundene Geschlecht.
Gibt es viele Menschen, die diese «Anpassungen» später bereuen?
Sie sprechen eine sogenannte Detransition an. Das wollen äusserst wenige, wir gehen von 0,1 Prozent aus. Und wenn das jemand will, dann fast immer mit dem Argument: «Ich habe mich überschätzt. Ich habe gedacht, ich hätte die Kraft, in einer Gesellschaft zu leben, die mich ausgrenzt und mir feindselig gegenübersteht.» Aber bereuen tun es deswegen die wenigsten. Und wenn, dann sagen sie, es sei ein wichtiger Stein auf ihrem Weg zu sich selbst gewesen.
«Menschen möchten wahrgenommen werden»