«Migrationschristen empfinden unsere traditionellen Kirchen oft als tot»
Herr BĂĽnker, wie verändert die Einwanderung die Schweizer Kirchenlandschaft?Â
Früher nahm man an, Migration sei ein vorübergehendes Phänomen. Vorwiegend katholische Gastarbeiter kamen in die Schweiz, etwa aus Italien. Man dachte: Die kommen für ein paar Jahre und gehen dann ohnehin wieder – das dachten auch die sogenannten Gastarbeiter selbst. Die katholische Kirche bildete sogenannte Sprachmissionen, um sie in dieser Zeit pastoral zu versorgen. Erst Jahrzehnte später merkten die Migranten: Die Heimat, in die sie einmal zurückkehren wollten, existiert so gar nicht mehr.
Und heute?Â
Heute haben wir uns verabschiedet von der Vorstellung, dass Migration ein vorübergehendes Phänomen ist. Die Menschen sind gekommen, um zu bleiben. Die Migration ist vielfältiger geworden. Seit den Neunzigerjahren sind zunehmend auch Christinnen und Christen mit evangelischem Glauben pfingstlicher Prägung eingewandert. Sie haben ihre Heimat aus verschiedenen Gründen und Zwängen verlassen. Anders als die italienischen Gastarbeiter interpretieren einige von ihnen ihre Migration als Sendung durch Gott.
Wie kann man das verstehen?Â
Ich nehme als Beispiel den Apostel Paulus. In der Apostelgeschichte wird beschrieben, wie er von Ort zu Ort fliehen musste, weil er immer wieder verjagt wurde oder in Gefahr war. Er aber interpretiert seine unfreiwillige Migration als freiwillige Mission. Das ist ein beliebtes Narrativ bei Einwanderern, die aus freikirchlichem Milieu kommen. Viele haben ein missionarisches Sendungsbewusstsein.
In anderen Worten: Ein Christ aus Afrika pfingstlich-evangelikaler Prägung versteht seine Einwanderung auch als Auftrag, die säkulare Schweiz zu remissionieren.Â
Ja, bei einigen – nicht bei allen – ist das ein Narrativ: Ihr habt uns Christus gebracht, jetzt bringen wir ihn euch zurück. Das hängt mit der für die Landeskirchler nicht einfachen Beobachtung zusammen, dass viele Migrationschristen unser einheimisches, schweizerisches Christentum als tot wahrnehmen. Aus unserer Forschung am SPI wissen wir: Die Verantwortlichen der Migrationsgemeinden sehen in den Schweizer Kirchen kein Zukunftsmodell, weil sie sie nicht als erfolgreich wahrnehmen. Sie können sich nicht vorstellen, in schweizerischen Kirchgemeinden aufzugehen. Die Idee, dass Migrantinnen und Migranten unsere leeren Kirchenbänke füllen, können wir uns aus dem Kopf schlagen.
Weshalb?Â
Es gibt tatsächlich so etwas wie einen Schock: Dass eingewanderte Christinnen und Christen denken, hier bin ich in einem christlichen Land und kann eine Kirche besuchen, und dann empfinden sie sie als tot. Ein herzliches Willkommen, was in ihrem Herkunftsland selbstverständlich ist, fehlt.
Woran liegt das?Â
Die Menschen in vielen Kirchgemeinden haben bereits ein vollständiges Beziehungsnetz. Sie haben gar keine Kapazität, neue Freundschaften einzugehen. Da steckt keine böse Absicht dahinter. Man kann sein Beziehungsnetz nun mal nicht unendlich erweitern. Deshalb ist es sinnvoll, dass es eigene kirchliche Angebote für Migrantinnen und Migranten gibt, weil sie das Bedürfnis und die Kapazität haben, neue Beziehungen zu knüpfen.
Was hindert die Landeskirchen sonst noch daran, auf Migranten zuzugehen?
Auf katholischer Seite sind viele migrantische Gemeinden stark priesterorientiert und vertreten traditionelle Vorstellungen der Geschlechterrollen in der Kirche. In Schweizer Pfarreien ist das anders. Auch im evangelischen Bereich gibt es Spannungen: Die Landeskirche auf der einen Seite ist von der Aufklärung geprägt und legt hohen Wert auf demokratische Strukturen, auf der anderen Seite gibt es stark bibel- oder geistorientierte Migrationskirchen. Die Frage ist: Wie kriegen wir das zusammen, die Migrantinnen und Migranten und ihre Gemeinden zu akzeptieren, wie sie sind, und gleichzeitig die eigenen Werte nicht über Bord zu werfen.
Auf reformierter Seite scheint Handlungsbedarf zu bestehen. Was empfehlen Sie den Reformierten?
Ich sehe Handlungsbedarf auf unterschiedlicher Ebene. Erstens ist da eine diakonische Verpflichtung gegenüber Migrantinnen und Migranten, die noch nicht lange in der Schweiz sind und Unterstützung benötigen. Zweitens ist es wichtig, zu verstehen, weshalb es eigene Migrationskirchen braucht: Weil das Christentum in der Schweiz vielfältiger geworden ist. Die Sprache, die Frömmigkeitsform, die soziale Herkunft, die gemeinsame Erfahrung der Migration – all das zeichnet Migrationskirchen aus.
Kann die Religion den eingewanderten Menschen helfen, in der neuen Heimat Wurzeln zu schlagen?
Ja. Für viele Migrantinnen und Migranten ist Religion eine wichtige Ressource im Umgang mit Krisen. Für manche ist sie primär ein Sozialsystem, für andere eine individuelle Glaubensüberzeugung, für Dritte vielleicht ein weisheitliches Modell der Lebenserklärung oder noch etwas anders. Es ist wichtig, dass Seelsorgende diese Vielfalt kennen, wahrnehmen und berücksichtigen.
«Migrationschristen empfinden unsere traditionellen Kirchen oft als tot»