Mini-Hadsch statt Massenandrang
Wegen der Corona-Epidemie hat Saudi-Arabien dieses Jahr nur ein paar Tausend Pilger zugelassen – letztes Jahr waren es 2,5 Millionen Gläubige. Zudem durften nur unter 65-Jährige nach Mekka kommen, die keine chronische Vorerkrankungen aufweisen und bereits in Saudi-Arabien leben. Was war sonst noch anders?
Amir Dziri: Alles war viel übersichtlicher. Dort wo sich in früheren Jahren Millionen Menschen nebeneinander drängten, umkreisten jetzt die Gläubigen auf vorgezeichneten Markierungen am Boden die Kaaba. Zudem war es verboten, die Kaaba zu berühren. Dort herrschte in den letzten Jahren immer ein besonderes Gedränge, gilt das Berühren der Kaaba als besonders segensreich. Die saudische Pilgerverwaltung hat auch darüber hinaus sämtliche Register gezogen: Die Reinigungsintervalle der gesamten Infrastruktur wurden verdichtet, zusätzliches Hygienepersonal eingestellt, Pilger sollen vor Eintritt in Mekka einen Corona-Test absolviert haben und werden an unterschiedlichen Stationen durch Sterilisationsröhren gebeten.
Muslime und Musliminnen mussten im Weihezustand eine Maske tragen. Wirkt sich diese Vorschrift auf die Spiritualität aus?
Im Weihezustand während der Pilgerfahrt treten die Gläubigen aus ihrem existenziellen Lebenszyklus heraus und sollen in einen transzendenten Zustand kommen. So ist es während der Pilgerfahr verboten, sich die Haare oder die Nägel zu schneiden oder ein anderes Lebewesen zu töten. Die Menschen tragen zwei weisse saubere Leinentücher, die nach dem Tod der Pilger oft als Leichentuch benutzt werden. Wenn man also einfach zusätzlich noch eine Maske trägt, ändert sich nichts an der theologischen Grundidee.
Kamen Widerstände bei all diesen Vorgaben auf?
Nein. Die körperliche Hygiene ist tief ins religiöse und kulturelle muslimische Gedächtnis eingebrannt. Der Islam kennt viele Reinheitsgebote und Vorschriften: Vor jedem der fünf täglichen Gebete gibt es beispielsweise eine rituelle Waschung. Diese Gebote zeigen eine grosse Sensibilität für Körperhygiene. Deshalb gab es meiner Meinung nach auch kaum Widerstände gegen die Hygienemassnahmen aufgrund der Corona-Krise. Theologisch finde ich es interessant, dass immer wieder die Vorstellung vom Islam als rigide Gesetzesreligion vorherrscht, die total unflexibel ist. Und nun führt uns die Corona-Epidemie vor Augen, wie viel Verständnis die muslimische Welt für das grosse Infektionsrisiko aufbringt.
Was bedeutet diese kleine Version für Teilnehmerinnen und Teilnehmer?
Die islamische Religiosität definiert sich ganz stark, wie das Judentum auch, über Gemeinschaftlichkeit. Klar kann man die fünf Säulen des Islams, zu denen das Gebet, der Fastenmonat Ramadan, die Almosen und die Pilgerfahrt gehören, alleine erfüllen. Aber es fühlt sich ganz anders an, dies in der Gemeinschaft zu tun. Ich erinnere mich an meine Pilgerfahrt nach Mekka und Medina: In den grossen Gruppen kommt man mit anderen Menschen rasch ins Gespräch über theologische oder existenzielle Fragen. Der kulturelle Austausch ist enorm. Das fällt nun wegen der Corona-Krise alles weg. Auch die traditionellen Empfänge der Pilger zu Hause fallen dieses Jahr aus. Es ist Tradition, dass man ihre Rückkehr feiert.
Mit dieser Miniversion der Pilgerfahrt entgehen der saudischen Wirtschaft Einnahmen von etwa zwölf Milliarden US-Dollar. Was bedeutet es für Saudi-Arabien als Staat?
Saudi-Arabien hat die Möglichkeit verloren, sich im internationalen Wettbewerb um die Deutungshoheit über den Islam zu positionieren. Stellen Sie sich vor, pro Jahr kommen zwei Millionen Muslime und Musliminnen ins Land, und hören zu, wie hier der Islam ausgelegt wird. Das passiert dieses Jahr nicht. Diese Miniversion der Pilgerfahrt ist nun ein herber Schlag. Die Pilgerverwaltung hat bekannt gegeben, dass sich die diesjährigen Teilnehmer aus 160 Nationen zusammenstellten. Man wollte zeigen, schaut her, wie global die Pilgerfahrt trotz Einschränkungen auch dieses Jahr war. Aber de facto ist sie das nicht.
Nicht nur die Wirtschaft leidet. Auch die religiösen Gelehrten mussten zurücktreten: Es war der saudische Staat, der die Vorgaben machte, welche eigentlich in die Kompetenz der religiösen Gelehrten fallen.
In Saudi-Arabien herrscht ein ständiger Disput um die Deutungshoheit der Religion. Liegt diese beim Staat oder bei den Gelehrten? Mit der Tatsache, dass der Staat die Hygiene-Regeln vorgab, verlieren die Gelehrten an Bedeutung. Aber wir werden sehen, wie sich die Situation entwickelt. Saudi-Arabien gehört mit knapp 300'000 Corona-Infizierten und 3’000 Toten zu dem am stärksten von der Epidemie betroffenen arabischen Land. Es gilt abzuwarten, ob der Staat seine Bewohnerinnen und Bewohner tatsächlich zu schützen vermag. Interessant finde ich auch hier die Beobachtung, dass in einem so stark religiös geprägten Staat wie Saudi-Arabien mit Blick auf den Umgang mit der Covid-19 Epidemie die gleiche Frage wie in der Schweiz diskutiert wird: Wie dominant muss der Staat ins Leben seiner Bürger eingreifen und wie viel Freiheit muss er ihnen lassen?
Hat der Entscheid Saudi-Arabiens die Pilgerfahrt in kleinerer Form durchzuführen auch etwas mit dem vorherrschenden Sunna-Schia-Konflikt zu tun?
Saudi-Arabien versucht, alle möglichen weiteren Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb auch die Massnahmen für eine kleinere Pilgerfahrt. Hätte eine Pilgerfahrt wie in den vorherigen Jahren stattgefunden und es wäre zu einem Ansteckungsausbruch gekommen, kann ich mir gut vorstellen, dass ein politischer Rivale wie der Iran, vehement das Argument einer international organisierten Pilgerfahrt eingebracht hätte. Bisher ist es die saudische Pilgeradministration, die die Kontingente vergibt und für die Organisation zuständig ist.
Sind Schweizer Muslime von den diesjährigen Geschehnissen direkt betroffen?
Ja, die Schweiz hat ein Kontingent von 1200 Pilgern pro Jahr. Diese wurden informiert, dass sie ihre Pilgerfahrt nicht antreten können. Das ist nicht nur ein emotionales Thema, schliesslich bereiten sich viele Schweizer Muslime und Musliminnen lange Zeit spirituell und religiös auf die Reise vor. Es ist auch eine finanzielle Frage: Diese Reise kostet im Durchschnitt 6000 Franken. Wie bei den herkömmlichen Reiseveranstaltern ist auch hier noch nicht klar, ob ihre Kosten zurückerstattet werden und ob die diesjährige Visa-Erteilung auch für das nächste Jahr noch gilt.
Interview: Nicola Mohler, reformiert.info
Mini-Hadsch statt Massenandrang