Mit 80 Jahren immer noch kämpferisch
Sie sind jetzt 80 Jahre alt und empören sich immer noch wie zu den Zeiten, als Sie der Chauffeur von Che Guevara waren. Was treibt Sie an?
Es ist meine Pflicht als Privilegierter für die Erniedrigten einzustehen. Ich hatte mein ganzes Leben Glück, machte Karriere als Professor, war im Nationalrat und lange für die Uno als Berichterstatter für das Recht auf Nahrung unterwegs. Da habe ich die Opfer aus nächster Nähe kennengelernt – ihre Armut, ihr Sterben.
Wer sind die Opfer?
Das ist die eine Milliarde Menschen, die jeden Abend mit leerem Bauch ins Bett geht. Darunter Kinder, alle fünf Sekunden stirbt eines an Hunger, nein wird ermordet.
Sie sprechen von Mord?
Nun wir leben in einer Epoche der Menschheitsgeschichte, in der es erstmals gelingen könnte, alle materiellen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Und Berechnungen zeigen, dass dieser Planet ohne Probleme 12,3 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Dass auf einer Welt mit einem so reich gedeckten Tisch Menschen verhungern, das ist Mord.
Nochmals zurück zum Ursprung ihres Gerechtigkeitsgefühls. Gibt es dafür ein Schlüsselerlebnis?
Es ist schwierig, das genau zu verorten. Aber im Rückblick habe ich ein Erlebnis vor Augen. Als Gymnasiast, Sohn des angesehenen
Gerichtspräsidenten von Thun, fuhr ich mit meinem blitzeblanken Velo jeden Donnerstag am Viehmarkt vorbei. Dort begegnete mir das menschliche Elend: Zerlumpte und unterernährte Kinder hüteten Vieh. Ich wollte von meinem Vater wissen, was das für bedauernswerte Kinder sind. Er antwortete mir als guter Calvinist: Das hat Gott so eingerichtet, dass sich die reichen Bauern in der Beiz mit Berner Platte voll schlagen und die Verdingbuben draussen aufs Vieh aufpassen. Das sei eine gottgewollte, unveränderliche Ordnung.
Und ihr Schicksal war auch schon vorbestimmt?
Klar: Nach dem Gymnasium die Universität, dann die Anwaltskanzlei in Thun, schliesslich der Ehestand mit Kindern und der Tod. Ein
Betongefängnis. Dagegen rebellierte ich.
Diese Rebellion hat dann Hans Ziegler zum Jean Ziegler gemacht. Und Sie haben der reformierten Kirche den Rücken gekehrt und sind katholisch geworden.
Die Rebellion ist der eine Teil, der mich zum Übertritt bewegte. Der andere Teil ist, dass mich die katholische Kirche als Weltkirche
faszinierte – ihre Internationalität und ihre Rituale. Aber das ist jetzt längst vorbei!
Ist Glaube für Sie eine persönliche Ressource oder einfach ein gutes Vehikel im Aufstand gegen die «kannibalische Weltordnung»?
Nein, ich bin wirklich überzeugt von Gottes Fügung. Ich könnte Ihnen zehn Beispiele geben, wie ich einen Flugzeugabsturz in Kuba überlebte, wie ich heil über ein Minenfeld in Guinea-Buissau gekommen bin. Ich bin mir sicher: Dass ich hier bin, ist kein Zufall. Ich bin mir
sicher: Wenn ich sterbe, werde ich erwartet. Die Auferstehung, in welcher Form auch immer, steht für mich ausser Zweifel.
Aber das Christentum hat für Sie auch eine politische Dimension.
Das ist richtig. Der revolutionärste Text der Welt, den es wahrscheinlich gibt, steht im Matthäus-Evangelium: «Ich war hungrig, ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war gefangen, ihr habt mich besucht, ich war durstig, ihr habt mir zu trinken gegeben.»
In Ihrem neuen Buch «Ändere die Welt!» setzen.sie auch auf die Kirchen.
Die Kirchen haben nicht mehr die gleiche Ausstrahlung wie früher. Aber in München beim alternativen Gipfel zum G7-Gipfel waren sie ein wichtiger Player der Zivilgesellschaft. Sie öffneten die Türen für Gottesdienste, luden zu Diskussionen in ihren Gemeindezentren ein.
Sie waren in München beim alternativen Gegengipfel der Hauptredner bei der Abschlusskundgebung. Die Treffen der Regierungschefs waren lange Zeit eine Magnet für die Proteste der Zivilgesellschaft – Nach München kamen weniger.
Vielleicht. Aber solche Wellenbewegungen beunruhigen mich nicht. Es ist Glut unter der Asche. Der Französischen Revolution gingen im 18. Jahrhundert Hungerrevolten voraus, immer wieder gab es aber auch Stillstand. Und plötzlich hat ein nichtiger Anlass als Funke ausgereicht, um den Sturm auf die Bastille und damit die Revolution zu entzünden.
Apropos Revolution – halten Sie einen gewaltsamen Umsturz in Europa für legitim?
Nicht in Europa. Hier haben wir die Waffen in der Hand, um die kannibalische Weltordnung an der Urne zu attackieren. Wir können Gesetze gegen die Konzerne machen, welche die Welt regieren. Stellen Sie sich vor: Heute bestimmen 500 der grössten Konzerne über mehr als die Hälfte des Weltbruttosozialprodukts.
Aber zumindest die Schweizer Bürger zeigen bisher wenig Neigung, die hier ansässigen Weltkonzerne an die Leine zu nehmen.
Das stimmt. Die Stimmbürger sind total entfremdet. Sie stimmen gegen ihre eigenen Interessen. Wir haben hier eine simulative Demokratie. Aber die Finanzoligarchie hat die Macht.
Die Schweiz garantiert Wohlstand.
Ein Wohlstand, der auch zum grossen Teil auf dem Blutgeld aus der Dritten Welt aufgebaut ist. Ich habe die Minen von Glencore im Kongo besucht. Ausbeutung brutal. Dazu kommt das Korruptionsgeld der afrikanischen Machthaber.
Sie betonen den Zusammenhang zwischen Ausbeutung in der Dritten Welt und Wohlstand hier?
Ja, darüber muss man die Menschen aufklären, immer wieder, bis der Blick frei wird für eine gerechte und vernünftig eingerichtete Welt. Der französische Schriftsteller Georges Bernanos schreibt: «Gott hat keine anderen Hände, als die unseren.» Entweder stürzen wir die kannibalische Weltordnung oder sonst tut es niemand.
Text: Delf Bucher, reformiert.info | Bild: Wolf Südbeck-Baur – Kirchenbote SG, Juli/August 2015
Mit 80 Jahren immer noch kämpferisch