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Interview mit Luzia Sutter Rehmann

«Mit vollem Bauch übersieht man dies leicht»

von Tilmann Zuber
min
12.02.2025
Um die Bibel zu verstehen, müsste man die Perspektive der Hungernden einnehmen, meint die Theologin Luzia Sutter Rehmann. Und sie zeigt, wie das Wunder von der Speisung der 5000 möglich wurde.

Luzia Sutter Rehmann, das Motto der diesjährigen kirchlichen Sammelkampagne lautet: Hunger frisst Zukunft. Ergibt das für Sie Sinn?

Ja, absolut. Hunger zerstört alles: das Leben, die Gegenwart und die Zukunft.

Sie erklären in Ihrem Buch, man müsse die Bibel aus der Perspektive der Hungernden lesen. Wie kamen Sie auf diese Idee?

In meinem Forschungsprojekt untersuchte ich die gemeinsamen Mahlzeiten in der Bibel. Dabei fiel mir auf, dass wir diese Geschichten aus der Sicht derer lesen, die satt sind. Die Hungernden, die gerne mit am Tisch sässen, übersehen wir. Als ich meinen Blickwinkel änderte, entdeckte ich viele Bibelstellen, die vom Hunger handeln. Mit vollem Magen übersieht man sie leicht.

Woher kommt das Brot, wer hat es, wer verweigert es und warum?

Was ändert sich, wenn wir die Perspektive der Hungernden einnehmen?

Man liest die Bibelstellen über Essen und Ernährung genauer und hebt nicht so rasch auf eine geistig-spirituelle Ebene ab. Um das zu verstehen, muss man im Alltag beginnen, bei dem, was wir existenziell brauchen, wie das tägliche Brot. Das wirft neue Fragen auf: Woher kommt das Brot, wer hat es, wer verweigert es und warum? Und was bedeuten Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Solidarität in diesem Zusammenhang?

Sie plädieren dafür, das Evangelium materialistisch zu interpretieren, bevor man ins Spirituelle abgleitet.

Die Welt ist sowohl materiell als auch spirituell. Es ist falsch, nur eine Seite zu sehen.

 

Luzia Sutter Rehmann lehrt Neues Testament als Titularprofessorin an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Gemeinsam mit Ulrike Metternich veröffentlicht sie für die Evangelische Akademie Berlin den monatlichen Podcast «Feministische Bibelgespräche». Ihr Buch «Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament» erschien 2014 im Gütersloher Verlagshaus.

 

In der Bibel hat man nicht den Eindruck, dass Jesus hungrig war. Er besucht die Hochzeit zu Kanaan, speist mit seinen Jüngern und sogar mit Zöllnern. Im Gegenteil, man wirft Jesus sogar vor, zu den Säufern und Fressern zu gehören.

Dieser Eindruck täuscht und entspricht nicht Jesu Lebenshaltung. An der Hochzeit von Kanaan herrscht übrigens auch Mangel und wir hören nichts davon, dass Jesus satt würde. Und leider waren es die Häuser der Zöllner, die zu Essen hatten – in Bethanien, bei den Freundinnen und Freunden Jesu, herrschte Hunger.

Wenn die Schüler sich wie Gartenpflanzen zu einander setzen, kommt Gottes Geist und begiesst sie, sodass sie Weisheit und Erkenntnis haben.

Wie ist die Geschichte von der Brotvermehrung zu verstehen? Sie wird oft als Symbol für das Evangelium als geistliche Nahrung interpretiert.

Diese wunderbare Geschichte wird in den Evangelien sechsmal erzählt, was ihre Bedeutung für die ersten Christinnen und Christen unterstreicht. Sattwerden ist der Traum aller Hungrigen – und dann hat es erst noch übrig! Diese Geschichte enthält eine Vision, die sich Hungrige immer wieder erzählten. Im Markusevangelium gibt es eine Besonderheit: Jesus ordnet an, dass die Menschen sich in Trinkgruppen (griech. symposia) zusammentun sollten. Sie übertrafen seine Anweisung, so dass aus ihnen muntere «Gemüsebeete» (griech. prasiai) wurden. Die Leute setzten sich in Reihen, was auf Schulreihen hinweist. Im rabbinischen Lehrhaus sassen die Schüler so, wenn sie sich zum Lernen bereit machten. Sie verstehen Jesu Botschaft so gut, dass sie einander selbst zur Speise werden.

Das Wunder der Speisung der 5000 ereignet sich, weil Menschen aufeinander achten und solidarisch sind.

Ja, das ist die ethische Ebene. Aber es gibt noch mehr. Im jüdischen Midrasch oder im Talmud heisst es: Wenn die Schüler sich wie Gartenpflanzen zu einander setzen, kommt Gottes Geist und begiesst sie, sodass sie Weisheit und Erkenntnis haben. Wer sich in einen Garten setzt, sagt damit auch: Gott, komm, wir brauchen dich!

Die Bitte um Hilfe steht auch im Vaterunser. Wir bitten Gott um unser tägliches Brot. Ist Nahrung ein Menschenrecht?

Die Menschenrechte entstanden viel später als die Bibel, im 20. Jahrhundert. Natürlich ist Nahrung ein Menschenrecht, das man niemandem vorenthalten darf, auch nicht Feinden oder Gefangenen. Lange Zeit wurde das nicht so gehandhabt, Gefangene wurden bei Wasser und Brot eingesperrt. Durch die Unterernährung sind sie nach und nach verhungert. Auch heute werden Menschen in einigen Ländern ausgehungert.

 

Ein Mann pflanzt in Äthiopien Bäume, um die Bodenerosion zu bekämpfen. Das Projekt  von Heks ist Teil der Fastenkampagne 2025. | Foto: Nafkot Gebayehu/Heks

Ein Mann pflanzt in Äthiopien Bäume, um die Bodenerosion zu bekämpfen. Das Projekt von Heks ist Teil der Fastenkampagne 2025. | Foto: Nafkot Gebayehu/Heks

 

Sie sprechen von Brot und Wasser. Beim letzten Abendmahl verteilte Jesus Brot und Wein an seine Jünger. Heute feiern wir das Abendmahl symbolisch als Gedächtnismahl. Ist das falsch? Sollte das Abendmahl mehr als Mahlzeit gefeiert werden, zu dem alle eingeladen sind?

Die geistliche Gedächtnisfeier ist nicht falsch. Aber gemeinsames Essen und Teilen der Speisen belebt die Gemeinschaft als Ganzes wie die einzelnen Mitglieder. Essen bedeutet Kultur, Tradition, Ritual und Austausch. Beim Abendmahl kommt die Spiritualität hinzu. Es tut gut, beides zu feiern, das Symbolische und das Körperliche.

In der Bibel sagt Paulus: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Kommunisten und Nationalsozialisten haben dieses Bibelzitat später missbraucht. Ist das eine Absage an die Solidarität?

Das Bibelzitat zeigt sich auch in der bürgerlichen Haltung, wenn man abgewiesenen Asylbewerbern das tägliche Geld kürzt, sodass sie kaum überleben können. Das gerne missverstandene Paulus-Zitat gehört in die Gemeindelehre. In den Urgemeinden gab es Menschen, die von der Gemeinde ernährt werden wollten. Die Gefahr dabei ist, dass man «für den Bauch» predigt, also das, was einem ein gutes Essen beschert, und dadurch seine Unabhängigkeit verliert. Paulus hat als Zeltmacher gearbeitet und ist der Gemeinde nicht auf der Tasche gelegen. So konnte er auch Kritik üben, die nicht gern gehört wurde.

Eine Zeit lang ging der Hunger weltweit zurück, weil er bekämpft wurde. Aber durch Kriege, Gewalt und die Klimakrise nimmt er wieder zu.

In Markus 11 wird berichtet, wie Jesus die Händler aus dem Tempel wirft. Hat dieser Wutausbruch Jesu etwas mit der mangelnden Solidarität der Reichen mit den Armen zu tun?

Ja, diese mangelnde Solidarität ist bis heute ein Problem. Die Reichen werden immer reicher und die Armen bleiben auf der Strecke. Ich finde es absurd, dass wir uns daran gewöhnt haben.

Sind wir zu unsolidarisch?

Wir sind immer zu wenig solidarisch, das ist ein Fass ohne Boden. Viele bemühen sich, sie spenden und engagieren sich für eine gerechtere Welt. Aber das Entscheidende sind die Machtverhältnisse in Politik und Wirtschaft, die sich kaum ändern. Reichtum ist Macht, enorme Macht. Die einfachen Menschen können wenig tun, um die Strukturen zu ändern.

Bis heute ist der Hunger in der Welt nicht besiegt, im Gegenteil.

Ja, eine Zeit lang ging der Hunger weltweit zurück, weil er bekämpft wurde. Aber durch Kriege, Gewalt und die Klimakrise nimmt er wieder zu. Es ist wichtig, dass wir als Schweiz unseren Teil zum Frieden und zum Klimaschutz beitragen.

Manchmal verlieren wir dabei den Glauben.

Ohne Gottvertrauen und Menschenfreundlichkeit können wir diese Aufgabe nicht bewältigen. Das gehört zusammen, sonst machen wir die Aufgaben nur halbherzig. Wir sollten nicht vergessen: Es ist schön, Menschen zu helfen. Geteiltes Brot schmeckt eigentlich viel besser!

 

Im März starten Heks und Fastenaktion ihre diesjährige ökumenische Fastenkampagne. Diese markiert den Beginn eines dreijährigen Zyklus, der sich mit den Ursachen und Folgen von Hunger beschäftigt. Die Kampagne 2025 trägt den Titel «Hunger frisst Zukunft!». Sie will aufzeigen, dass Hunger und Unterernährung keine unüberwindbaren, natürlichen Phänomene sind, sondern durch menschliches Handeln entstehen und die Zukunftsaussichten ganzer Gemeinschaften im Globalen Süden bedrohen.

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