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Zukunft

Mitgliederschmelze oder Eintrittswelle?

von Ralph Kunz, Professor für Praktische Theologie, Universität Zürich
3 min
17.01.2024
So zuverlässig wie die Gletscher schmelzen, verlieren die Kirchen Mitglieder. Um Gegensteuer zu geben, braucht es weder einen moralischen Zeigefinger noch Lockvogelangebote. Was es braucht, macht eine ehemalige Muslimin und Atheistin vor.

«Die Schäfchen laufen in Scharen davon!» Ein wenig erinnern solche und ähnliche Schlagzeilen an die Folgen der Klimaerwärmung. Die Gletscher schmelzen und die Kirchen verlieren Mitglieder. Da wie dort sehen wir derzeit Rekordwerte. Zwar gab es schon früher sogenannte Kirchenaustrittswellen. Der Begriff tauchte Ende der 1960er-Jahre auf und führte dazu, dass in kirchensoziologischen Mitgliedschaftsstudien den Ursachen und Auswirkungen nachgegangen wurde.

«Biologische» Schrumpfung kommt

Die Ergebnisse relativierten eine Zeitlang die Ängste. Die Austrittswilligen bildeten eine Minderheit. Weniger beruhigend war und ist bis heute, wer austritt: Es sind die jüngeren Generationen. Diejenigen, die bleiben, gehören zu den Älteren. Sie werden irgendwann aus natürlichen Gründen abtreten. Weil weniger nachkommen und immer mehr wegsterben, ist das natürliche Wachstumssaldo negativ. Die gegenwärtige Welle der Austritte kommt also zur «biologischen» Schrumpfung noch dazu.

Weder Lockvogelangebote noch moralische Zwänge, nein, das Zeugnis der Gemeinde ist es, das die Mitglieder bei der Stange hält.

Und die Zahlen lügen nicht. Der Mitgliederschwund in den Kirchen hat sich dramatisch beschleunigt – etwas stärker in der katholischen Kirche, etwas schwächer in den Freikirchen. Was in den Medien dazu zu lesen ist, vermittelt das Bild einer selbstverschuldeten Malaise. Allerdings sind sich die Kommentatoren – einmal abgesehen von den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – nicht einig, woran es liegt. Die konservativen Kritiker sehen die Folgen einer Kirchenpolitik, die mit dem Zeitgeist surft, die liberalen Geister sehen die Kirchen in der Pflicht, eisern zu sparen und ihre Strukturen zu prüfen. Wieder andere beobachten Megatrends, die nicht nur den Religionsgemeinschaften zu schaffen machen. Zum Beispiel ein wachsendes Misstrauen gegenüber allen Institutionen. Das ist wohl wahr, aber ein schwacher Trost für alle, die sich Sorgen um die Zukunft der Kirche machen. Aus der Schule, dem Gesundheitswesen oder dem Staat kann man nicht austreten …

Die Betonung liegt auf dem «Wir»

Es liegt auf der Hand, zu fragen, was die Kirchen tun können, um ihre Mitglieder bei der Stange zu halten. Doch ist das die richtige Frage? Wenn wir die Kirche nur als Dienstleisterin sehen, die ihren Kunden etwas fĂĽrs Geld bietet, verpassen wir etwas Wesentliches. Dem Evangelium angemessener wäre es, dass wir beherzt fĂĽr die Inhalte eintreten und das herausheben, was unser Christsein ausmacht. Die Betonung liegt allerdings auf dem «Wir». Die Hausaufgabe der Kirche ist die Aufgabe derjenigen, die sie bewohnen. Was wir glauben und hoffen, wie wir mit unseren Nächsten und Ăśbernächsten solidarisch sind, ist keine Privatsache. Es bildet die Grundlage unseres Gemeinwesens. Weder Lockvogelangebote noch moralische Zwänge, nein, das Zeugnis der Gemeinde ist es, das die Mitglieder bei der Stange hält. Zeugnis kommt von Zeigen. Worauf zeigen wir, wenn Glaube öffentlich zur Sprache kommt? WorĂĽber reden wir, wenn Kirche Thema ist?

Klar, es gibt eine gesunde Hemmung, sich selbst als Lichtgestalt zu feiern – aber es wäre dumm, das Licht des Glaubens unter den Scheffel zu stellen.

Man kann es den Medien nicht vorwerfen, dass sie über den Glaubensverlust berichten. Anders als wir, die wir stolz auf unser allgemeines Priestertum sind, haben sie keinen Verkündigungsauftrag. Unsere Aufgabe besteht darin, den Einfall des Glaubens zu bezeugen und nicht den Abfall zu bejammern. Klar, es gibt eine gesunde Hemmung, sich selbst als Lichtgestalt zu feiern – aber es wäre dumm, das Licht des Glaubens unter den Scheffel zu stellen. Wir sollten denen, die die Hoffnung aufgeben, etwas Leuchtendes entgegenhalten.

Prominentes Neumitglied

Zum Beispiel die Geschichte von Ayaan Hirsi Ali. Die aus Somalia stammende Publizistin, Frauenrechtlerin und Politikerin hat vor ein paar Wochen öffentlich erklärt, warum sie Christin geworden ist. Das Bekenntnis hat in England hohe Wellen geworfen. Man redet darüber, wie es dazu kam, dass eine Atheistin zur Kirche findet. Es gibt sie also doch, die Menschen, die eintreten! Weil sie vom Evangelium überwältigt wurden und wieder Hoffnung schöpfen für ihr Leben und das Leben unseres Planeten. Vielleicht ist es der Anfang einer Eintrittswelle? Wir werden es sehen! Auf jeden Fall ist es besser, mehr von denen zu reden, die umkehren, und weniger von denen, die sich abwenden.

Matthias Barth
23.02.2024 11.07 Uhr

Obwohl sich der kirchliche Mitgliederschwund dramatisch beschleunigt, will Ralph Kunz nicht die vielen Austretenden in den Blick nehmen, sondern den Fokus auf den Kircheneintritt der Atheistin Ayaan Hirsi Ali richten, die Christin geworden ist und ein grosses mediales Echo ausgelöst hat. Er möchte darin gar ein Hoffnungszeichen für eine mögliche Eintrittswelle sehen. Denn Gegensteuer zu den Austritten zu geben heisse nicht, den Abfall zu bejammern, sondern den Einfall des Glaubens zu bezeugen. Ich möchte in den Ausgetretenen nicht einfach die vom Glauben Abgefallenen sehen. Umso mehr, als die Kirchen mit ihrer Verkündigung nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung beige-tragen haben. Die Ursachen und Hintergründe des Mitgliederschwundes sind gewiss vielfältig – in den entsprechenden Analysen geht aber meist vergessen, dass die Kirchen durch ihr Ver-ständnis der christlichen Überlieferungen als unveränderliche Glaubenswahrheiten viele ihrer Mitglieder an den Rand gedrängt und aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgegrenzt haben. Die Kirchen haben nicht reagiert auf die Tatsache, dass viele Mitglieder manche dieser Glaubenswahrheiten nicht mehr mit ihrem Weltbild in Beziehung setzen können: Zum Beispiel, dass die Bibel Gottes Wort sei, Jesus der Sohn Gottes und Gott selber ein allmächtiges, jenseitiges Wesen. Damit ignorieren sie das Weltverständnis einer grossen Zahl heutiger Menschen. Dass diese sich dann distanzieren – innerlich oder äusserlich – ist nachvollziehbar. Denn sie erfahren nichts davon, dass die traditionellen Glaubenswahrheiten auch anders verstanden werden können. Und dass man auch ohne den Glauben an einen jenseitigen Gott oder eine heilige Dreieinigkeit Christ sein kann und in der Kirche willkommen ist. So ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel. Denn nur wenn die Kirche ihre symbiotische Verbindung mit ihrem traditionellen Gottesverständnis beendet, und wenn sie die christliche Überlieferung als Ressource ohne Glaubensbedingung versteht, wird sie auch in Zukunft als glaubwürdige Weg- und Dienstgemeinschaft in unserer Gesellschaft bestehen können.

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