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«Multireligiosität ist Teil unserer Identität»

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12.07.2016
Am 13. Juli tagt der Russland-Nato-Rat. Er behandelt auch die Ukraine-Krise, die seit zwei Jahren andauert. Der Kirchenexperte Oleh Turiy erklärt im Interview, welche Rolle die Kirchen seither in der Ukraine spielen.

Herr Turiy, wie haben es die Ukrainer mit dem Glauben?

Oleh Turiy: Gemäss soziologischen Umfragen bezeichnen sich mehr als 70 Prozent der Ukrainer als gläubige Christen. Die grösste Konfessionsgruppe bilden die Orthodoxen. Aber die ukrainische Orthodoxie ist keine Einheit, sondern in drei Jurisdiktionen unterteilt: Moskauer Patriarchat, Kiewer Patriarchat und die Autokephale (siehe Kasten unten). Interessant finde ich, dass dreissig Prozent der orthodoxen Christen nicht wissen, welcher Jurisdiktion sie angehören. Das zeigt: Die konfessionellen Grenzen in der Ukraine sind nicht so eindeutig.

In der Ukraine hat keine Kirche einen Monopolstatus. Was sind die Konsequenzen?

In der Ukraine sind alle Konfessionen vor dem Gesetz gleichberechtigt. Das ist nicht wie in Russland, wo die russisch-orthodoxe Kirche bevorzugt wird. In unserer Geschichte gehörten die Kirchen stets zur Bürgergesellschaft und nicht zur Machtstruktur. Multireligiosität ist Teil unserer Identität. Kirchen können gegen ein autoritäres politisches System eine wichtige Rolle einnehmen.

Vertrauen die Ukrainer der Kirche mehr als ihren Politikern?

Ja. 66, 5 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sprechen den Kirchen ihre Zustimmung aus. Das Vertrauen der Ukrainer in Kirchen ist grösser als das in Politiker oder Institutionen wie dem Militär. Wir verstehen die Kirchen als wichtigen Bestandteil unserer Bürgergesellschaft.

Welche Bedeutung haben die Geschehnisse von der Maidan-Revolution für die Kirchen?

Die Kirchen und religiösen Gemeinschaften haben eine wichtige Rolle bei den Protesten eingenommen. Sie haben sich gemeinsam auf die Seite der Demonstranten gestellt, die für Menschlichkeit, Rechtsstaat und Würde auf die Strasse gingen. Geistliche verschiedener Konfessionen waren ständig auf dem Platz anwesend, Katholiken, Orthodoxe und Protestanten haben miteinander gebetet, Kirchen wurden als Lazarette für die Pflege von Verletzten genutzt, und die Kirchen schlossen sich zusammen. Der «Allukrainische Rat der Kirchen und der religiösen Organisationen», der sich aus Orthodoxen, Griechisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Protestanten, Juden und Muslimen zusammensetzt, publizierte mehrere Stellungnahmen gegen die Anwendung von Gewalt auf dem Maidan.

Die innerukrainische ökumenische Zusammenarbeit war neu. Was war geschehen?

Lassen Sie mich mit den Worten meiner Studenten antworten: «Wenn man den Tod vor Augen hat, versteht man besser, was gläubige Menschen untereinander verbindet. Unterschiede verschwinden plötzlich.» Bei den Kirchen hat ein Umdenken stattgefunden; Statt darauf zu fokussieren, die Menschen für die Gemeinde zu gewinnen, hat die Kirche sich für die Bedürfnisse der Bürger und ihre Gesellschaft eingesetzt.

Welche Rolle spielen die Kirchen heute in dieser neu erweckten Zivilgesellschaft?

Viele Kirchen engagieren sich im Aufbau der Gesellschaft auf der Basis von ethischen Werten. Sie sind wichtig sowohl in moralischen als auch in spirituellen Belangen. So haben sich Kirchen gemeinsam gegen Korruption ausgesprochen. Das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche hat etwa den Präsidenten Poroschenko für zu wenig Reformen gerügt. Gleichzeitig bemühen sich die Kirchen, die Menschen zu unterstützen; sie betreuen Flüchtlinge aus dem Osten des Landes oder pflegen verletzten Soldaten. Die Kirchen sind ganz verschieden aktiv. Ein konkreter Beitrag an die Zivilgesellschaft leistet beispielsweise die Ukrainische Katholische Universität in Lemberg, indem sie nicht nur Theologen ausbildet, sondern mit einem neuen Studienprogramm in Politik, Ethik und Wirtschaft junge Menschen in den Themen weiterbildet, die für den Neuaufbau unserer Gesellschaft wichtig sind.

Sollten sich westliche Kirchenführer mehr für die Ukraine einsetzen?

Als ehemaliges kommunistisches Land schenken wir grossen Worten oder politischen Deklarationen kaum noch Glauben. Viel mehr brauchen wir konkrete Handlungen im Kleinen, beispielsweise den Austausch zwischen Menschen. Nur dieser schafft Vertrauen. Ein gutes Beispiel ist etwa der gemeinnützige Verein «Bär&Leu», der zwischen der Schweiz und der Ukraine Brücken schlägt. Er engagiert sich überkonfessionell für Menschen in der Ukraine, die an Tuberkulose erkrankt sind, oder fördert die Zusammenarbeit der Kirchen.

Was sollte Europa tun?

Wir haben uns trotz Widerstand für europäische Werte ausgesprochen. Das ist nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Zukunft Europas wichtig. Das sollte Europa verstehen.

 Nicola Mohler, reformiert.

(Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».)

 

Oleh Turiy, 52

Professor Turiy leitet seit 2002 das Institut für Kirchengeschichte der Katholischen Universität Lemberg. Der Historiker promovierte mit einer Arbeit über die griechisch-katholische Kirche im gesellschaftspolitischen Leben Galiziens 1848–1867. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf zwischenkonfessionellen Beziehungen in der Ukraine sowie der ekklesialen und nationalen Identität.


 

 

 

 

 

 

 

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