Neuübersetzung Buch Esther: tiefgründig religöser Kern
«Wenn man das Judentum begreifen möchte, kommt man nicht umhin, sich mit dem Talmud zu befassen», begann Rabbiner Moshe Baumel seinen Vortrag im Basler Bischofshof aus dem 15. Jahrhundert. Der Talmud ist das Hauptwerk der «mündlichen Lehre», das Diskussionen jüdischer Gelehrter aus mehreren Jahrhunderten umfasst. Er bildet neben der Thora die Grundlage des Judentums.
Die Verschriftlichung des Talmuds – so Baumel – erfolgte im Zeitraum des 3. bis 8. Jahrhunderts. Seither gilt der Talmud als abgeschlossen. Das mache es zuweilen herausfordernd im Laufe der Zeit aufkommende technische oder wissenschaftliche Neuerungen wie beispielsweise Elektrizität oder künstliche Befruchtung adäquat in der jüdischen Gesetzessammlung zu behandeln. Der Talmud hinterfrage alles – ausser die Existenz Gottes. Das Werk gehe sehr kritisch mit der eigenen Religion um. Deshalb müsse es wahr sein.
Moshe Baumel war fast zehn Jahre Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel. Zu seinem Abschied im Frühling dieses Jahres legte er zwei Bände des babylonischen Talmud-Traktats «Megilla» (hebräisch für Buchrolle) vor, die er ins Deutsche übersetzt hat. Die Esther-Rolle bildet im Talmud ein eigenständiges Traktat. Nur gerade 32 Seiten umfasst das Talmud-Traktat als eines der kürzesten. In der zweibändigen Deutschübersetzung von Moshe Baumel sind daraus mit allen Auslegungen fast 600 Seiten geworden.
Gefahr und Errettung
Die Esther-Erzählung ist auch in christlichen Kreisen als Teil des Alten Testaments bekannt. Es schildert
die Geschichte der existenziellen Bedrohung der Juden in der antiken persischen Diaspora unter König Xerxes dem Ersten. Der loyale Hofbeamte Mordechai und die Königin Esther vereiteln den vom höchsten Regierungsbeamten Haman geplanten Genozid an den Juden. Am Ende der Erzählung sind alle Feinde tot, die Juden sind geachtet, und viele Menschen schliessen sich der jüdischen Religion an. Von nun an wird Purim, das an den Mut Esthers und Mordechais erinnert, als jährliches jüdisches Freudenfest gefeiert.
Kunstwerk versus Historie
In der Forschung ist man sich nicht einig darüber, ob das Buch Esther einen historischen Kern hat oder vor allem als literarisches Kunstwerk zu lesen ist. Das Buch ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert: einer hebräischen und zwei davon abweichenden griechischen Versionen. Das hebräische Esther-Buch ist von hoher literarischer Qualität, auf den ersten Blick jedoch wenig religiös.
In seiner neuen deutschen Übersetzung zeigt Rabbiner Moshe Baumel auf, dass auch die hebräische Version durchaus einen tiefgründig religiösen Kern hat. Das Leitmotiv der Esther-Erzählung sieht Baumel im Narrativ, dass Gott für die Juden zu jener Zeit vordergründig zwar verborgen bleibe, im Hintergrund aber – für die meisten unsichtbar – aktiv zum Guten wirke und zu allen Zeiten schützend seine Hand über das auserwählte Volk halte.
Die Bezüge der Esther-Erzählung reichen aus jüdischer Sicht bis in die heutige Gegenwart. Man denke nur an den Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 oder die über die Jahrhunderte von Liebe und Hass geprägten Beziehungen zwischen Juden und Persern. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass Israel und der Iran bis zur Islamischen Revolution im Jahr 1979 äusserst freundschaftliche Beziehungen unterhielten. Seither ist es die erklärte Absicht des iranischen Regimes, den Staat Israel auszulöschen.
Basler Tradition
«Im 16. Jahrhundert war in der Basler Universitätsstadt schon einmal der babylonische Talmud gedruckt worden, allerdings in einer von der Kirche zensierten Version», sagte Moshe Baumel. Das Werk des Druckers Ambrosius Froben sei damals aus ökonomischer Sicht nur ein mässiger Erfolg gewesen. Doch der Basler Talmud sei bis heute in der Fachwelt ein Begriff, und er, Baumel, habe aus dieser gedruckten zensierten Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert viele interessante Elemente aufnehmen können.
«Der babylonische Talmud», übersetzt und erläutert von Moshe Baumel. Basel, 2023 ISBN 978-3-033-10271-2 (Selbstverlag)
Neuübersetzung Buch Esther: tiefgründig religöser Kern