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Friedliche Revolution

Nikolaikirche Leipzig: Kein Museum für «Revolutionstouristen»

von Vera Rüttimann
min
10.10.2024
Am 9. Oktober 1989 versammelten sich über 70.000 Menschen in Leipzig, um friedlich gegen den SED-Staat zu demonstrieren. Nur einen Monat später fiel die Berliner Mauer. Ausgangspunkt für die Montagsdemos waren die Friedensgebete in der Nikolaikirche. Doch wie geht es der Gemeinde und ihrem Pfarrer Bernhard Stief heute?

Auf dem Weg zum Interview mit Pfarrer Bernhard Stief passiere ich einen Ort, der seit 2009 die Blicke vieler Passanten auf sich zieht. An einer riesigen Wand in einer Baulücke prangt das farbenfrohe Bild von Michael Fischer-Art. Das 300 Quadratmeter grosse Werk zeigt Wimmelmotive wie Szenen von Montagsdemonstrationen oder flüchtende DDR-Bürger im Comic-Stil. Doch bald wird es hinter einem Hotelneubau verschwinden. Werden eines Tages auch die Erinnerungen an die historischen Wendetage von 1989 in Leipzig verblassen?

Die Erinnerungen wachhalten

«Nein, ganz und gar nicht», sagt Pfarrer Bernhard Stief, als er mich in seinem Pfarrbüro im Predigerhaus am Nikolaikirchhof 4 empfängt. Er hat viel zu tun. Die Medien wollen wissen, wie er die Herbsttage vor 35 Jahren hier erlebt hat und wie die Stadt und die Nikolaikirche das Erbe dieser Revolution weiter pflegen. «Der 9. Oktober ist ein Tag, der immer gefeiert wird, egal auf welchen Wochentag er fällt», betont er. Er zählt ein beeindruckendes Netzwerk von Institutionen auf, die mit Ausstellungen, Führungen und vielem mehr die Erinnerung an die Herbsttage 1989 wachhalten.

Das Lichtfest erinnert daran, dass diese Revolution gewaltfrei war. Und das hat viel mit den Friedensgebeten zu tun.

Besonders freut sich Bernhard Stief auf das Lichtfest. Am 9. Oktober sind Künstler aus aller Welt eingeladen, an verschiedenen Orten ihre Lichtinstallationen zum Thema «Demokratie» zu zeigen. «Dieses Fest erinnert daran, dass diese Revolution gewaltfrei war. Und das hat viel mit den Friedensgebeten zu tun», betont der Pfarrer der Nikolaikirche.

Bernhard Stief trat 2008 in die Fussstapfen von Pfarrer Christian Führer. Führer ging als Gesicht der Friedlichen Revolution in der DDR in die Geschichte ein. 1982 rief der Mann mit der Jeansweste die monatlichen Friedensgebete in der Nikolaikirche ins Leben. Christian Führer kannte Stief schon als Kind. In der DDR gab es für Pfarrersfamilien die Möglichkeit, in kirchlichen Häusern Urlaub zu machen. 1984 lernte er den damaligen Pfarrer der Nikolaikirche kennen. «Mit seinen Söhnen habe ich Fussball gespielt. Ich sehe Christian Führer noch heute am Spielfeldrand rufen: ‹Erster FC Nikolai, schiess ein Tor! ›», erzählt er lachend.

 

Nikolaikirche – offen für alle. Seit den achtziger Jahren steht dieses Schild vor der Kirche. Eine lebendige Gemeinde, «die sich damals wie heute in die Gesellschaft einmischt», sagt Pfarrer Bernhard Stief. | Foto: Vera Rüttimann

Nikolaikirche – offen für alle. Seit den achtziger Jahren steht dieses Schild vor der Kirche. Eine lebendige Gemeinde, «die sich damals wie heute in die Gesellschaft einmischt», sagt Pfarrer Bernhard Stief. | Foto: Vera Rüttimann

 

Ort der Eskalation

Sein Blick schweift jetzt vom Pfarrbüro hinaus auf den Nikolaikirchhof. Dort haben sich Schüler zu einer Führung versammelt. Sie kennen diese Kirche nur aus dem Film «Nikolaikirche» (1995), einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Loest, oder aus Büchern mit Titeln wie «Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution aus der Kirche». Wenn überhaupt. Jetzt stehen sie vor der Nikolaisäule. Vom Stadtführer erfahren sie, was es damit auf sich hat: Das Denkmal ist eine Nachbildung der Säulen in der Kirche und symbolisiert, wie die Ideen der Revolution aus der Kirche auf die Strasse getragen wurden. Der heute idyllische Platz war vor 35 Jahren Schauplatz hitziger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Staatsmacht. Viele Besucher der Friedensgebete und Demonstranten wurden hier verhaftet. In einer Ausstellung im Seitenflügel der Nikolaikirche erfahren die Schüler, wie von hier mit den «Montagsdemos» entscheidende Funken für die Friedliche Revolution ausgingen, auf den Rest der DDR übersprangen und einen Flächenbrand auslösten. Und dann sind da noch die alten Schwarz-Weiss-Fotos von den Friedensgebeten...

Demokratie und Frieden sind keine Selbstverständlichkeit, sondern müssen immer wieder neu erkämpft werden.

 

Das Friedensgebet: Das Herz von St. Nikolai

Auch in diesem Herbst sind die Friedensgebete ein Thema. «Gerade in ihnen lebt das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 weiter», sagt Pfarrer Bernhard Stief auf dem Weg in die Nikolaikirche. Die Andacht beginnt um 17 Uhr. Doch schon vorher sitzen die Besucher in den weiss-gelblich gestrichenen Bänken. Fotografieren ist verboten. Selfie-Sticks sammelt der Küster gleich am Eingang ein. Obwohl im Inneren der Kirche grosse, wuchtige Säulen stehen, ist die Atmosphäre heimelig. In den Bänken begrüsst Stief Gemeindemitglieder, die seit Anfang der achtziger Jahre zu fast jedem Friedensgebet kommen.

 

Lange vor der Andacht sitzen bereits einige Besucher in den weiss-gelb gestrichenen Bänken. Einige Gemeindemitglieder nehmen seit Anfang der achtziger Jahre an fast jedem Friedensgebet teil. | Foto: Vera Rüttimann

Lange vor der Andacht sitzen bereits einige Besucher in den weiss-gelb gestrichenen Bänken. Einige Gemeindemitglieder nehmen seit Anfang der achtziger Jahre an fast jedem Friedensgebet teil. | Foto: Vera Rüttimann

 

Die Friedensgebete verändern sich stetig. Aber Demokratie und Frieden sind nach wie vor zentrale Themen. «Sie sind keine Selbstverständlichkeit, sondern müssen immer wieder neu erkämpft werden», so Bernhard Stief. Seit 1982 werden diese Themen in all ihren Facetten jede Woche von anderen Gruppen hier gestaltet.

Schwerter zu Pflugscharen?

Im Inneren der Nikolaikirche befindet sich an einer Wand ein Plakat mit dem Motiv «Schwerter zu Pflugscharen». Ein Spruch, der auch zum Markenzeichen dieser Kirche wurde. Aber: Damals wie heute sorgt er für Zündstoff. Wann immer in einem Land Krieg herrscht, stehen sich hier Pazifisten und Rüstungsbefürworter gegenüber. «Als es um das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und Waffenlieferungen ging, brannte die Luft», sagt Bernhard Stief, denn die Nikolaikirche sei seit den achtziger Jahren pazifistisch geprägt. Wichtig sei, dass es gelinge, die verschiedenen Strömungen in der Friedensbewegung zu moderieren und aufeinander zu hören. Das sei schon 1989 so gewesen, erinnert sich der Pfarrer: «Da gab es die einen, die sagten: Wir bleiben, und die anderen, die sagten: Wir gehen in den Westen.»

 

«Schwerter zu Pflugscharen»: Ein Spruch, der auch zum Markenzeichen dieser Kirche wurde und heute noch für Zündstoff sorgt. | Foto: Vera Rüttimann

«Schwerter zu Pflugscharen»: Ein Spruch, der auch zum Markenzeichen dieser Kirche wurde und heute noch für Zündstoff sorgt. | Foto: Vera Rüttimann

 

«Offen für alle»

Die Nikolaikirche steht mitten in der Leipziger Altstadt. Zu jeder Tageszeit herrscht hier reges Treiben. Touristen, Einkaufsbummler, Geschäftsleute – alle müssen hier durch, wenn sie zum Beispiel zum Bahnhof wollen. Und immer wieder steht dieses Schild fast im Weg: «Nikolaikirche – offen für alle». Manche gehen achtlos weiter, andere werden neugierig und betreten die Kirche. Dort werden sie von Touristenführern oder vom Pfarrer persönlich aufgeklärt, was es damit auf sich hat. Seit den achtziger Jahren steht dieses Schild vor der Kirche. Man erfährt: Hier ist kein Museum für «Revolutionstouristen», hier finden sie eine lebendige Gemeinde vor. Eine, wie Bernhard Stief sagt, «die sich damals wie heute in die Gesellschaft einmischt.» Eine, die offen ist für alle, die hier Heimat und Hilfe suchen.

Die Nikolaikirche sei jünger geworden, so Bernhard Stief. Das merkt man, wenn man sich im Gebäude am Nikolaikirchhof 3 umschaut. Es gibt einen Krabbel- und einen Kindergartenkreis. Auch die Konfirmandengruppe trifft sich hier regelmässig. Zugezogene junge Leute und Studentinnen und Studenten treffen sich zum Schwatz auf dem Nikolaikirchhof. Sie fühlen sich wohl in der pulsierenden Universitätsstadt. Leipzig boomt. Neue Stadtteile entstehen, junge Familien siedeln sich an.

«Eine Realität»

Eine Realität, die auch in diesen Tagen eine Rolle spielt, sind die grossen Wahlerfolge der AfD. «Dunkeldeutschland» wird Ostdeutschland in diesem Zusammenhang von den Medien gerne genannt. Überschattet das die 89er-Feierlichkeiten? «Nein, überhaupt nicht», sagt Bernhard Stief und plädiert für eine differenzierte Betrachtung. Nicht überall werde rechts gewählt. Gerade Leipzig sei sehr gemischt. Die Wahlerfolge der AfD beschäftigen auch Bernhard Stief: «Das macht uns als Kirche schon Sorgen.» Auch in der Nikolaikirchgemeinde gebe es AfD-Wähler. «Mit dieser Realität müssen wir umgehen», sagt er. Ihn treibt um, «dass wir gerade in sozialen Brennpunkten zu manchen Menschen keinen Zugang mehr finden und den Schwächsten nicht mehr helfen können.»

 

| Foto: Vera Rüttimann

| Foto: Vera Rüttimann

 

«Den Ring frei-laufen»

Auch der Leipziger Ring hat sich im Laufe der Zeit verändert. «Das gemeinsame Ringen um eine Sache, mit der alle gemeinsam um den Innenstadtring gelaufen sind, das war ein Ideal. Das ist heute längst nicht mehr so», sagt Bernhard Stief. «Wer rennt heute denn um den Ring?», fragt er fast wütend und schiebt nach: «Es gab schon Demonstrationen von Corona-Leugnern und von Mitgliedern der AfD, die Plakate mit dem Slogan trugen: Wir sind das Volk!» Die vielleicht wichtigste Parole der Friedlichen Revolution von 1989, missbraucht. «Viele ehemalige Bürgerrechtler und Gemeindemitglieder», sagt Bernhard Stief, »sind entsetzt gewesen.» Bernhard Stief sinniert: «Wir müssen den Ring wieder frei-laufen.»

«Dran bleiben»

Erneut läuten um 17 Uhr die Glocken der Nikolaikirche zum Friedensgebet. Auf dem Weg zur Kirche spricht Bernhard Stief über die Kernbotschaft, die für ihn von den Herbsttagen 1989 überdauern soll: «Es ging damals wie heute darum, die Angst zu überwinden. Den Mut nicht zu verlieren und dran zu bleiben. Das Friedensgebet ist dafür eine sehr schöne Form.»

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