Herr Capus, die Literaturkritik ist sich einig, mit «Königskinder» haben Sie eine der schönsten Liebesgeschichten der jüngsten Zeit geschrieben. Sind Sie ein unerschütterlicher Romantiker?
Für mich ist es lebensnotwendig zu glauben, dass man lange zusammen sein kann. Wenn dies romantisch ist, dann bin ich ein Romantiker, ja.
Damit stehen Sie im Widerspruch zur heutigen Zeit, in der viele erleben, wie Beziehungen zerbrechen.
Seit den 60er-Jahren hat die Literatur das Ungenügen und Scheitern in der Ehe ausgiebig behandelt. Ich finde es mindestens so interessant, der Frage nachzugehen, warum und wie man zusammenbleiben kann.
Haben Sie eine Antwort gefunden?
In der romantischen Liebe gibt es einen Zauber, den man nicht erklären kann, weil er sonst bricht. Damit eine Beziehung Bestand hat, gibt es ein paar einfache Rezepte: Seid nett zueinander, gebraucht keine schlimmen, unverzeihlichen Wörter und haut euch keine Bratpfanne über den Kopf. Ich beobachte in meinem Umfeld, wie Ehepaare einen rüden Umgangston haben, den sie sich gegenüber Fremden nie erlauben würden. Das wundert mich. Mit dem wichtigsten Menschen, den man hat, sollte man ausgesucht höflich umgehen. Dass sexuelle Untreue für die Beziehung nicht förderlich ist, versteht sich von selbst. Das sind keine aussergewöhnlichen Zauberrezepte. Ich selbst bin seit 25 Jahren verheiratet und weiss, wovon ich rede.
In «Königskinder» beschreiben Sie auch die Liebe auf den ersten Blick.
In einer langen Beziehung kommen die schweren Zeiten früh genug. Da sollte man am AnfangSchmetterlinge im Bauch haben. Das hilft.
Verpasst man etwas im Leben, wenn man sich nicht auf das Wagnis der Liebe einlässt?
Ja, man verpasst wirklich das Wesentliche, wenn man nicht mit anderen Menschen zusammen ist.
Trotzdem nimmt die Individualisierung zu.
In der von Neoliberalismus und Globalisierung geprägten Epoche geht jeder seinen Interessen nach. Das tut unserem Wohlbefinden nicht gut. Der Mensch ist ein Wesen, das in Gemeinschaft lebt. Wir sind Herdentiere, die einander brauchen. Das gehört zum Menschsein. Wir müssen wieder zu Gemeinschaften zurückfinden, nicht nur in der Ehe und Familie, sondern in Vereinen und als Nation. Für unsere Zukunft ist dies zentral.
In «Königskinder» sprechen Sie die Wahrheit an. Wann wird eine Geschichte wahr?
Eine Geschichte ist dann wahr, wenn sie im Autor und den Lesern eine Saite anklingen lässt, aus der sie eine tiefe Erkenntnis gewinnen. Ob eine Geschichte faktentreu ist, ist nicht entscheidend. Selbst eine streng wissenschaftliche Beschreibung ist nie absolut eindeutig. Sie bleibt immer Interpretation. Wir sollten keinen Anspruch auf Wahrheit erheben, den niemand einlösen kann. Das muss man sich bewusst sein und demütig werden.
Sie sprechen von der Saite, die im anderen anklingt. Wollen Sie andere berühren?
Ich wünsche mir, dass das Lied, das ich singe, von anderen gehört wird. Es ist eine falsche Schriftstellerromantik, dass man für sich selbst schreibt. Jede Sprache ist Kommunikation mit anderen Menschen.
Bald ist Weihnachten. Herr Capus, haben Sie Ihren Kindern Weihnachtsgeschichten vorgelesen?
Ich will ehrlich sein. Als meine -Buben drei und fünf Jahre alt waren, lebten wir in Paris. Ich kaufte eine Kinderbibel, um ihnen daraus vorzulesen. Biblische Geschichten gehören ja zu unserer Kultur. Als ich die Bibel durchblätterte, stiess ich nur auf Mord und Totschlag. Das wollte ich meinen Kleinen nicht erzählen.
Es gibt in der Bibel sicher auch anderes.
Sicher, im Neuen Testament wird es etwas besser. Ich legte dann die Bibel zur Seite. Und meine Frau erzählte den Buben wieder Geschichten vom «Häsli« und «Schneckli».
Seit Jahrhunderten erzählt man Weihnachtsgeschichten. Wie erklären Sie sich diese Beliebtheit?
Es sind archetypische Geschichten wie jene von Homer oder anderen. Der Erfolg der biblischen Geschichten beruht in den letzten 2000 Jahren auch darauf, dass sie den Leuten von der Obrigkeit aufgezwungen wurden. Man war verpflichtet, sie zu hören und sie zu glauben. Andernfalls wurde man bestraft. Die Popularität dieser Geschichten war nicht ganz freiwillig.
Weihnachtsgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Brauchen wir positive Geschichten, um im Leben weiterzukommen?
Es ist zentral, welche Geschichten wir unserer eigenen Existenz verleihen. Die Erzählungen, die wir in uns tragen, tragen uns durch unsere Leben als Einzelne und als Kollektiv. Es ist wichtig, dass wir positive Narrative von uns selber haben. Wenn ich denke, dass ich ein schlechter Mensch bin, der alles falsch macht, der zu dick ist und materiell zur kurz kommt, trägt mich das nicht durch das Leben. Ich brauche eine positive Konzeption von mir selbst wie auch von der Gemeinschaft. Wenn wir uns nur durch Abgrenzung definieren, glauben, zu uns Blonden passen keine Dunklen, und wir alleine kennen das wahre Wort Gottes, dann führt das zu nichts Gutem. Im Gegenteil: Wir müssen aus dem Grundgefühl leben, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind.
Heute dominieren die schlechten Nachrichten.
Ja, das ist der Stil in der Politik und Gesellschaft. Es ist viel aufregender, über Fehler und über Schlechtes zu berichten. Dafür erhält man im Internet mehr Klicks. Gerade junge Menschen sollten erleben, dass wir eine Gemeinschaft bilden, zu der auch Menschen gehören, die anders sind und leben. Es sollte ein Sozialjahr geben, in dem sich jeder in den Dienst der Gemeinschaft stellt, sei es in der Kirche, dem Militär oder anderswo. Wir werden uns so bewusst, dass Leute verschieden sind und trotzdem eine Gemeinschaft bilden. Das ist gut.
Gab es früher mehr positive Narrative, gerade nach 1968?
Nein. Die Jahre nach 68 waren geprägt von der Selbstfindung, dem Individualismus und der Abgrenzung von der vorherigen Generation. Heute hat das Pendel zu stark auf die andere Seite ausgeschlagen. Jeder schaut auf seinen eigenen Bauchnabel. Man bauscht Fragen enorm auf, wie etwa die dersexuellen Orientierung und ob man sich in einem männlichen oder weiblichen Körper wohl fühlt. Heute verlangt jede Schattierung ihr eigenes öffentliches WC. Da wäre sicher etwas mehr Demut angesagt.
Welche Themen sollte die Literatur heute aufgreifen?
Die Literatur folgt keinem Aufgabenbuch. Wir leben in einer Epoche des Umbruchs. Die globalisierte und individualisierte Gesellschaft muss positive Narrative finden, die uns als Gemeinschaft in die Zukunft führen. Ohne gute Geschichten geht es nicht.
Dafür wäre Weihnachten ein guter Anlass.
Weihnachten ist ein Fest der Gemeinschaft. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein personell dünn besetztes Weihnachtsfest, an dem man darüber debattiert, wer eine schwere Kindheit und wer was zu wem im Jahr 1978 gesagt hatte. Schrecklich! Mein Rezept lautet: Ladet alle ein, je mehr Leute und Kinder dabei sind, umso besser. Die Grossen müssen genug zum Essen und Trinken haben und die Kinder ihre Geschenke. Dann kann nichts schiefgehen.
Welches Buch empfehlen Sie für unter den Weihnachtsbaum?
«Neujahr» von Juli Zeh. Das ganze Buch spielt am ersten Januartag nach einem Silvester. Eine Familie verbringt die Weihnachtstage auf den Kanarischen Inseln und es läuft alles aus dem Ruder. Wunderbar geschrieben.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 3. Dezember 2018
Alex Capus, «Königskinder», Carl Hanser Verlag
«Ohne gute Geschichten geht es nicht»