«Ohne Putin wäre Weissrussland schon frei»
Bis vor Kurzem stand Belarus nicht auf der Landkarte besonders aufmüpfiger Nationen. Wie erklären Sie sich jetzt diesen lang anhaltenden Protest?
Das konnte man wirklich nicht voraussehen. Niemand hatte Belarus auf dem geopolitischen Radar. Ich glaube, selbst die Weissrussen haben nicht geahnt, welche Kräfte die Zivilgesellschaft entfalten kann. Kein Analytiker oder Oppositioneller im Land rechnete damit. Nun schon bald 90 Tage dauern die Massendemonstrationen, die nicht nur von Jungen, sondern von Arbeitern, Invaliden, Rentnern und Frauen gleichermassen getragen werden. Normalerweise müsste ein so ausdauernder Protest zum Sturz führen. Normalerweise schon. Aber da sprechen einige Faktoren dagegen.
Welche denn?
Fangen wir mit Lukaschenko an: Er ist sich bewusst, dass er sich nur noch mit Gewalt an der Macht halten kann. Seit Wochen steigert er die Repression, versucht, die Menschen massiv einzuschüchtern. Man kann sich gar nicht ausmalen, zu was die Sicherheitskräfte Lukaschenkos fähig sind. Diese Menschenschinder treten Türen ein, schlagen alte Menschen, verhaften willkürlich Studierende. Sie schrecken vor nichts mehr zurück und schiessen mit Gummigeschossen und mit Blend- und Schockgranaten wahllos in die Menschenmenge.
Scheitert nicht der gewaltlose Widerstand daran, dass Lukaschenko völlig unbeeindruckt ist, wie die Weltöffentlichkeit ihn als Tyrannen wahrnimmt?
Tatsächlich hat der Diktator jedes Interesse an seiner Reputation auf der internationalen Bühne verloren. Ihm geht es nur noch um das reine Überleben. Der nun wochenlange gewaltlose Protest verändert sich aufgrund dieser brutalen Härte. Viele Menschen akzeptieren es auch, dass manche Oppositionelle Gewalt und Sachbeschädigung als Gegenwehr tolerieren.
Und was sind die anderen Faktoren, die Lukaschenko immer noch nicht ins Moskauer Exil fliehen lassen?
Eben Moskau. Alle wissen es in Belarus: Ohne Putins Unterstützung im Hintergrund wäre Weissrussland jetzt frei. Aber warum hält Putin zu Lukaschenko? Man sagt ja, dass die Chemie zwischen den beiden nicht stimmt. Das ist richtig. Aber ein Autokrat unterstützt immer den anderen Autokraten. Denn er erblickt in dem Ende eines anderen Tyrannen auch sein eigenes Ende. Jetzt jedenfalls will Putin in einer Warteposition verbleiben. Es kann aber sein, dass er sich noch einmischt, auf welcher Seite, das steht in den Sternen.
Ist sein Plazet für Lukaschenko also nicht in Stein gemeisselt?
Im Gegensatz zur Ukraine hat Moskau noch keinen festen Plan für Belarus. Offiziell ist man auf der Seite von Lukaschenko. Aber es fällt auf, dass in den russischen Medien auch offen über die Verhältnisse in Belarus berichtet wird und andere Meinungen zu hören sind. Dies war bei der Ukraine anders.
Aber Putin hat doch einen Plan. Er will möglichst die alte territoriale Einheit wie zu Sowjetzeiten herstellen.
Über seinen imperialen Traum, das Russland von der Pazifikküste Wladiwostoks bis nach Brest reichen soll, besteht kein Zweifel. Aber derzeit stellt sich die aussenpolitische Lage für Russland kompliziert dar. Da sind die Kämpfe in der Ostukraine, es gibt Probleme in Georgien und auch in Kirgistan. Aktuell kommt Bergkarabach als neuer Konfliktherd noch hinzu. Das bindet Russlands Kräfte und erklärt vielleicht auch die abwartende Haltung gegenüber Weissrussland.
Antirussische Töne wie in der Ukraine mischen sich trotz des machtvollen Strippenziehers Putin nicht in den Protest.
Man folgt dem Sprichwort: Man soll den Teufel nicht beim Namen nennen. Sprich: Die Demokratiebewegung will in dieser gefährlichen Situation nicht provozieren. Diese Strategie hat die belarussische Gesellschaft bereits bei den Wahlen 2015 verfolgt. Kurz nachdem die Russen in der Krim einmarschiert waren und im ostukrainischen Donbass mit kriegerischen Handlungen begannen, sagten sie sich: Wir wählen lieber noch einmal Lukaschenko. Sonst könnten die Russen bei uns einmarschieren.
Und wer wird am Ende obsiegen: die Demokratiebewegung oder die Diktatur?
Meine Frau, eine Weissrussin, und ich haben optimistische und pessimistische Stunden. In den dunkelsten Momenten gibt uns das eine Hoffnung: Nun hat sich in Weissrussland eine Zivilgesellschaft geformt, die nicht mehr verschwinden wird. Ganz entscheidend dabei ist, dass sich dieser zivile Protest von unten herausbildete und nicht von oben gesteuert wurde. Diese Netzwerke werden immer wieder von Neuem den Impuls geben, die Demokratie auf die Agenda von Belarus zu setzen.
Interview: Delf Bucher, reformiert.info
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