«Plötzlich löste sich ein Fluss von Tränen»
Als Spitalseelsorgerin weiss Bettina Tunger-Zanetti nie, was als nächstes passieren wird. Ist der Tag ruhig, besucht die 55-Jährige die Patientinnen der Frauenklinik, stellt sich vor, fragt nach, ob sie ein Gespräch wünschen. «Aufsuchende Seelsorge», nennt sich das. An «weniger ruhigen Tagen» hingegen reiht sich ein Notfall an den anderen, der dann Vorrang hat. Wie unlängst, als eine Hebamme anruft und erzählt, eine Schwangere sitze bei ihr, deren Kind im Mutterleib gestorben sei. Die Geburt des toten Kindes werde bald eingeleitet. Tunger-Zanetti eilt zum Gebärsaal, trifft dort auf ein Paar im Schock. Beide ringen mit sich und mit dem Schicksal. «Warum wir? So kurz vor der Geburt?» Fragen, auf welche die Seelsorgerin keine Antworten hat.
Doch darum gehe es nicht, sagt Tunger-Zanetti. «Es geht um das gemeinsame Aushalten. Die Begleitung im Schmerz ohne vorschnell zu trösten oder Antworten finden zu wollen.» Plötzlich umarmt die Mutter die Seelsorgerin. Ein Fluss von Tränen löst sich. Auch der Vater muss weinen. Lange hatte er versucht, stark zu bleiben. Der Schock weicht der Verzweiflung. «Diese Reaktionen dürfen sein», sagt Tunger-Zanetti. Nur so könne der riesige Schmerz verarbeitet werden.
Die Hebamme betritt das Zimmer. Sie ist froh, um Tunger-Zanettis Hilfe. Sie selbst findet kaum Zeit, um Trost zu spenden. Ihr Trost besteht darin, dem Paar zu erklären, dass sie sich Zeit lassen dürfen, um sich in Ruhe zu verabschieden. Darüber sind die Eltern erleichtert. Nach der Geburt ist Tunger-Zanetti wieder bei dem Paar. Die Mutter hält das tote Kind im Arm. Dann gibt sie es dem Vater, der es liebevoll betrachtet. Sie beschliessen es zu baden, ziehen ihm die Babykleider an, die sie gekauft hatten. Sie wollen gemeinsam mit ihrem Kind die Nacht verbringen, um so viele Erinnerungen wie nur möglich mit ihm zu haben.
Segnung und Abschiedsfeier
Dann kommt das Gespräch auf die Frage: Was passiert nun mit unserem Kind? Die Seelsorgerin beruhigt: «Alle Kinder am Luzerner Kantonsspital, seien sie noch so früh geboren, werden würdevoll bestattet.» Eine Segnung wird vereinbart. Nächster Tag, 10 Uhr, Patientenzimmer. Die Grosseltern, Brüder und Schwestern, drei kleine Nichten und Neffen sind gekommen. Die Kinder haben nebst Zeichnungen Kuscheltiere für das Baby mitgebracht. Sie möchten es auf den Arm nehmen, Opa soll ein Erinnerungsfoto machen, mit ihrem Neffen. Der Grossvater sieht die Pfarrerin unsicher an. Das sei in Ordnung, sagt sie. Kinder hätten im Vergleich zu Erwachsenen noch eine natürliche Art, mit dem Tod umzugehen. Bettina Tunger-Zanetti segnet das Kind. Das wollen die Neffen auch. Sie nehmen es sanft auf den Arm. Es wird still im Raum. Es ist keine erdrückende Stille, viel mehr eine kraftvolle Stille, in der etwas Neues entsteht, eine Familie sich Halt und Trost gibt, in all ihrem Schmerz.
Kinderfeld, drei Wochen später. Das Grab ist ausgekleidet mit einer Sternenfolie. Die Kinder haben eine Laterne auf die Steinplatte gestellt und Selbstgebasteltes an den Kirschbaum gehängt. Zwei der Kleinen legen sich auf den Boden und schauen gespannt in das Grab. «Du musst nicht traurig sein, Tante, unser Baby ist mit Spielkameraden zusammen», sagt das Mädchen. Über die Gesichter der Trauernden huscht ein Lächeln. Auch Bettina Tunger-Zanetti muss lächeln.
Nach der Abschiedsfeier werden die Eltern regelmässig hierherkommen. Wie so viele andere auch. Niemand stellt heute Fragen. Etwa, was nach dem Tod sei. Ob es ein Leben danach gäbe. Solche Fragen höre sie häufig von Schwerkranken, sagt Tunger-Zanetti. Meist stellt sie dann eine Gegenfrage. «Was glauben Sie denn? Was gibt Ihnen Trost?» Oft hätten die Menschen selbst eine Antwort. Nur wer hartnäckig weiterbohrt, erhält eine Antwort von ihr. Tunger-Zanetti will anderen nicht ihren Glauben aufzwingen. «Wir alle können nicht wissen, was nach dem Tod sein wird» sagt sie dann. «Aber wir dürfen darauf vertrauen, dass wir auch nach dem Tod in Gottes Hand sind, dass unser Schöpfer, der uns begleitet hat, als wir auf die Welt kamen und ein ganzes Leben lang bei uns war, auch im Tod bei uns sein wird.»
Sie habe eine Arbeit, die sie sehr befriedigt, sagt Tunger-Zanetti. Da sie gebraucht werde von so vielen. Die Kraft dafür hole sie sich unter anderem beim gemeinsamen Beten mit dem Seelsorgeteam, jeden Tag um 14 Uhr im Andachtsraum.
«Plötzlich löste sich ein Fluss von Tränen»