Poesie am Ort der letzten Ruhe
Gleich zu Beginn erfährt das Publikum «Die Wahrheit über alle irdischen Dinge». Der Schauspieler und Schriftsteller Matthias Zurbrügg rezitiert laut aus der altgriechischen Komödie «Die Vögel» von Aristophanes. Dabei bewegt er sich zwischen den Gästen, die sich beim Haupteingang des Waldfriedhofs versammeln, um am literarischen Spaziergang der Ausstellung «ZEIT LOS LASSEN» teilzunehmen. Einige schauen dem Mann im schwarzen Anzug direkt ins Gesicht, wenn er sie anspricht, andere senken den Blick. Man ahnt, dass einen der folgende Spaziergang nicht unberührt lassen wird. Und das ist gut so.
Perspektiventausch
Wer den hölzernen Wegweisern folgt, die durch die Ausstellung lotsen, entdeckt 19 Wortbilder bestehend aus 26 Wörtern aus grossen Holzbuchstaben. Die Buchstaben stehen oder liegen neben- oder hintereinander, hängen an Bäumen oder schwimmen auf einer Wasserfläche. Sie gliedern sich mühelos in den Waldfriedhof ein und wirken, als wären sie schon immer da gewesen.
LEBEN, LIEBEN, SCHLAFEN, VERBUNDEN, VERGESSEN, STILLE, WIR, ENDLICHKEIT, TOR. Alle Wörter drehen sich um die Vergänglichkeit, das Jenseits, das Diesseits, den Tod und das Leben. Die Wegweiser führen «weiter und immer weiter». Manchmal stellen sie die Besucherinnen und Besucher vor eine Wahl. Abkürzung oder Umweg, Glauben oder Wissen? Sie kündigen «schöne Aussichten» an oder stellen die Frage: Was bleibt? Nur zurück führen sie niemals.
Der Künstler Matthias Zurbrügg gestaltet den Spaziergang mit Auszügen aus literarischen Werken zum Beispiel von Heinrich von Kleist und Hermann Hesse, dramatischen Stücken sowie selbst verfassten Texten. Auch Nina Hagen und der mittelalterliche Dichter Johannes von Tepl kommen zu Wort.
Stark ist der Moment, wenn Zurbrügg vor dem Wort VERGESSEN die Namen der Anwesenden verliest. Die Leute horchen auf, wenn sie den eigenen Namen hören, da und dort erklingt ein verlegenes Lachen. Aber vor allem herrscht vielsagende Stille.
Auf einer Lichtung bilden liegende Buchstaben das Wort SCHLAFEN. Ein kleines Schild lädt zum «Probeliegen» ein. Der Perspektiventausch ist eindrücklich. Auf dem Friedhof zu liegen und in den Himmel zu schauen, beschert gemischte Gefühle, die sich auf den Gesichtern der Probeliegenden spiegeln. Der Trompeter Beat Bossart begleitet die Szene mit dem russischen Wiegenlied «Bajuschki Baju».
Aus lieben wird leben
Dieselbe Melodie erklingt vor dem Wort TOR, durch das jeder und jede alleine zu schreiten hat. Dieser Moment wirkt feierlich. Niemand drängelt sich vor, alle gehen nacheinander durch den Bogen aus Buchstaben. Beat Bossart begleitet den Spaziergang auch mit weiteren Stücken. «Somewhere over the rainbow» wirkt zwischen den Wörtern ZEIT SEIN und VERGESSEN versöhnlich.
Das Wort LIEBEN schwimmt auf dem Wasser des Gemeinschaftsgrabes, der Buchstabe «I» ist nur halb im Wort. Matthias Zurbrügg singt im Dialog mit der Trompete Wortspiele, aus LIEBEN wird LEBEN. Später umarmt er einen grossen Baumstamm, an dem senkrecht die Buchstaben VERBUNDEN hängen. Der Schauspieler wütet aber auch gegen den Tod. Bei der Grabstätte der Bombardierungsopfer von 1944 kämpft er im Wort EINSCHLAGEN gegen das Schicksal, den Tod als «Halunken» beschimpfend. Das Publikum nimmt dankbar wahr, dass man auf einem Friedhof auch wütend sein darf. Einen ebenso bewegenden wie bedrückenden Moment erleben die Anwesenden vor dem Wort STILLE. Der Schauspieler liest ein Gedicht für ein unbekanntes Neugeborenes, das ein Passant tot in einer Gracht in Amsterdam geborgen hatte: «Ruhe sanft.»
Auf andere Gedanken kommen
Matthias Zurbrügg ist in Fällanden aufgewachsen und lebt im Berner Worblental. «Markus Sieber hatte mich eingeladen, diese Ausstellung auf dem Schaffhauser Waldriedhof zu realisieren», erzählt er. Er habe grossen Respekt vor Friedhöfen, verbinde mit ihnen eine starke Mystik. «Ein Friedhof ist für alle ein besonderer Ort. Hier kann man die Zeit loslassen und trauern, man kann sich aber auch erholen und auf andere Gedanken kommen.» Der Schaffhauser Waldfriedhof biete mit seinen verschlungenen Wegen ein grosses Feld für poetische Worte. Und ebenso für Wörter aus Buchstaben. «Zuerst erstelle ich zwanzig bis dreissig Entwürfe und lasse sie wirken», erzählt Zurbrügg vom künstlerischen Prozess. Auf dem Waldfriedhof hat Zurbrügg 2,98 Tonnen Holz, Stahl und Beton verarbeitet. Die Buchstaben zeugen auch von handfester Zimmerarbeit. «Wenn die Wörter etwas in mir auslösen und zum Nachdenken anregen, sind sie für mich stimmig. Aber am Ende tritt jeder Betrachter in seine eigene Beziehung zu ihnen.»
Man kann die Ausstellung auf eigene Faust erkunden oder einen inszenierten literarischen Spaziergang buchen. «Bei beiden Varianten ist der Sinn, den Wörtern nachzugehen, sich Zeit zu lassen und zu schauen, was einen anregt.»
Ausstellung bis 3. November: Spaziergänge an verschiedenen Samstagen und Sonntagen. Anmeldung erforderlich. Preis: 25 Franken, Ausstellung: Richtpreis 10 Franken, Solipreis 20 Franken (per Twint oder Überweisung möglich) Weitere Infos auf: www.matthiaszurbruegg.ch
Poesie am Ort der letzten Ruhe