Pokémon erobern die Kirchen
Die Welt ist im «Pokémon-Go»-Fieber. Tausende Jugendliche machen mit dem Handy Jagd auf die bunten kleinen Monster. Diese tummeln sich überall und machen auch vor sakralen Orten nicht halt. Man findet sie auf Friedhöfen, in Kirchen oder am Synagogen-Denkmal. Das löst Ärger aus. Solche Erinnerungsorte in ein Spiel zu integrieren, sei «einfach nur geschmacklos», meinte ein Sprecher der Jüdischen Gemeinde Bonn. Während die russisch-orthodoxe Kirche sich über die «satanischen» Pokémon in der Kathedrale des Heiligen Nikolaus in Wien erzürnte. Sie verlangt von der Entwicklerfirma die Entfernung des Pokémons mit dem Namen «Raa666», das im Altarraum aufgetaucht sei.
In der Schweiz gibt «Pokémon Go» ebenfalls zu reden. Reformierte streiten auf der Facebookseite von ref.ch darüber, ob die Jagd nach den Fantasiefiguren auf Friedhöfen die Totenruhe stört. Sie habe «die Hoffnung noch nicht aufgegeben dass das Ganze eine Sommerblase ist», kommentiert eine Nutzerin.
Inzwischen haben die Manga-Fabelwesen die Schweizer Kirchen erobert. Bei einem Besuch im Basler Münster springt ein gelbes Enton zwischen den Kirchenbänken auf. Im Kreuzgang flattert ein blaues Zubat. Die beiden Pokestops beim Münster, wo man sich mit Bällen für das Einfangen der Tierchen eindecken kann, heissen sinnigerweise «St. Georg» und «Münschter». Einzelne Kirchenbesucher regen sich auf. «Die Pokémon-Jagd in einem sakralen Raum widerspricht der Sittlichkeit», empört sich eine junge Frau.
Handys nicht verbieten
Offizielle Kirchenvertreter sehen die Pokémon-Jagd gelassener. Sie sei bisher noch kein Thema im Münster, sagt Anne Schmidt-Pollitz, Leiterin des touristischen Accueils. In der Kirche darf man das Handy benutzen, unter anderem funktioniert der Audioguide für die Touristen über das mobile Telefon. «Solange die sakrale Atmosphäre nicht gestört wird, wollen wir die Benutzung des Handys nicht verbieten. Unsere Mitarbeiter sind aber informiert und haben ein Auge darauf», so Schmidt-Pollitz. «Wenn Besucher an den Pfeilern herumklettern, weisen wir sie zurecht. Ebenso würden wir es mit übereifrigen Pokémon-Jägern machen.»
«Diese Freiheit muss die Kirche aushalten»
Johannes Stückelberger, Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Universität Bern, ist der Meinung, dass die Sakralität eines Kirchenraums durch das Einfangen virtueller Wesen darin nicht beeinträchtigt wird. Er betont, dass Kirchen öffentliche Räume sind, offen auch für ein Spiel wie «Pokémon Go». «Sonst müsste man sie zum Privatraum erklären, was nicht dem Kirchenverständnis der Landeskirche entspricht», sagt Stückelberger. Dennoch unterscheidet er zwischen Kirchen und anderen Freiräumen in der Stadt und gibt zu bedenken: «Wer die Kirchen für die Pokémon-Jagd benutzt, übersieht möglicherweise, was diese Räume sonst noch zu bieten haben, als Räume der Stille, als Rückzugsorte. Doch jeder kann selber bestimmen, wie er mit diesen Räumen umgehen will. Diese Freiheit muss die Kirche aushalten.»
Jugendliche finden den Weg in die Kirche
Für Stückelberger überwiegt das Positive. «Die Pokémon-Jagd hat etwas Spielerisches, und wenn Jugendliche dabei den Weg in eine Kirche finden, sollte man das nicht unterschätzen.» So sieht das auch die Anglikanische Kirche in England. Sie heisst die «Pokémon-Go»-Spieler willkommen und rät den Kirchgemeinden sogar, ihnen Möglichkeiten zum Aufladen des Handys bereitzustellen. Das Spiel biete die «beispiellose Gelegenheit», Menschen aus der Umgebung zu treffen, die normalerweise nicht in die Kirche gehen.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Karin Müller / Kirchenbote / 10. August 2016
Pokémon erobern die Kirchen