Rache, Gier und Macht: Güllen ist überall
Güllen ist bekannt. Die Kleinstadt, in der die junge Klara Wäscher nach einer «Amour Fou» mit Alfred Ill schwanger wurde, den Vaterschaftsprozess verlor, ihre Heimat verliess, um nach 45 Jahren als milliardenschwere Erbin zurückzukommen, und sich zu rächen: am einstigen Geliebten, an der ganzen Stadt.
Auch die Güllener sind bekannt. Verarmt sind sie, unzufrieden und schnell bereit, auf das Angebot der Zachanassian einzugehen, um sich und die Stadt zu retten. Als eingeschworene Gemeinschaft finden es die Güllener moralisch vertretbar, Alfred Ill für schuldig zu erklären, ihn umzubringen, und das Geld der Wohltäterin anzunehmen.
In der Geschichte, wie Dürrenmatt sie erzählt, sei der Fokus auf den Güllenern und ihrer Verführbarkeit, meint die Dramatikerin Gornaya. Die Schweizerin, deren künstlerische Wurzeln in Riga liegen, hat in Zusammenarbeit mit Alexander Kratzer, dem künstlerischen Leiter des Effingertheaters, eine Neufassung geschrieben. Darin stellt sie die Beziehung und das Leben der beiden Hauptfiguren ins Zentrum. «Mit meinen Texten erzähle ich das, worüber bisher nicht gesprochen wurde, obwohl es im Stück von Dürrenmatt angelegt ist.»
Wie aus Kläri die «Zachanassian» wurde
Wie und warum wurde aus Klara Wäscher Claire Zachanassian? Und wie funktionieren bürgerliche, patriarchale Strukturen, Sexismus und Machtmechanismen – damals in Güllen und bis heute auf der ganzen Welt? «Die Frau, die dem Stück den Namen gibt, tritt bei Dürrenmatt gar nicht so oft auf und bleibt eher in Hintergrund», weiss Gornaya. «Sie wird meist als groteske Alte mit einer – im ursprünglichen Wortsinn – komischen Entourage dargestellt. Mich interessierte jedoch die Geschichte dieser Frau.»
Zum neuen Fokus passt, dass in Alexander Kratzers Inszenierung die Kleinstädter durch Puppenspiel dargestellt werden. Nebst den vielen Masken mit beweglichen Unterkiefern sind insbesondere der Bürgermeister, der Pfarrer, der Lehrer, der Polizist, der Arzt und Mathilde erkennbar verkörpert. Sie werden von einer Schauspielerin und einem Schauspieler in Szene gesetzt.
Claire «kauft» sich den einstigen Geliebten
Echte Menschen sind lediglich Ill und Claire. Claire hält Rückschau, erzählt aus ihrem Leben und macht deutlich, wie aus dem lebensfrohen und liebenden Mädchen die berechnende, rachsüchtige Frau wurde, die den einstigen Geliebten vernichtet. «Wir wollen zeigen, was dazu geführt hat, dass Klara hart und gefühllos wurde. Was sie antreibt, mit den Mitteln der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft Rache zu nehmen.»
Natürlich sei die Art von Selbstermächtigung dieser Frau brutal, meint Gornaya. Aber auch das Verhalten des jugendlichen Ill inmitten der Güllener Männergesellschaft sei schliesslich moralisch verwerflich. «Und der Wankelmut der Güllener erscheint vor dem moralischen Anspruch, den sie mehrfach betonen, doppelt grotesk.»
Trotzdem, die Themen seien aktuell und die Figuren in Dürrenmatts Stück würden uns den Spiegel vorhalten. «Sie handeln nach den herrschenden Gesetzen der Macht, des Kapitalismus, des unbedingten Vorteils auf Kosten anderer», fasst die Dramatikerin zusammen. «Das mag überspitzt wirken, doch es ist unsere Realität, bis heute.»
Katharina Kilchenmann, reformiert.info
«Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Effingerstrasse, Bern
Regie: Alexander Kratzer, Bearbeitung: Gornaya, Bühne: Peter Aeschbacher, Kostüme und Puppen: Katia Bottegal, Licht: Marek Streit, Dramaturgie: Christiane WagnerMit: Melanie Herbe, Hannes Perkmann, Katharina Halus, Josef Mohamed
Premiere: 30. Oktober 2021, 20 Uhr, Weitere Aufführungen: 1.–6. November (20 Uhr), 7. November (17 Uhr), 9.–13. November 2021 (20 Uhr), 14. November (17 Uhr), 16.–20. November 2021 (20 Uhr), 22.–27. November 2021
Rache, Gier und Macht: Güllen ist überall