Raunächte: Wenn die Wand zwischen Diesseits und Jenseits dünn ist
Die sogenannten Raunächte – das sind die zwölf Nächte zwischen Weihnachten und Dreikönig. Manchmal wird Heiligabend dazugezählt, dann sind es 13 Nächte. Sie erleben derzeit einen esoterisch angehauchten Lifestyle-Boom, der sich vor allem in reichhaltiger Literatur niederschlägt, mit passenden Märchen, volkskundlichem Hintergrundwissen zu den Raunächten und Tipps, mit welchen Ritualen man sie möglichst tiefgründig und spirituell begehen kann. Die Palette reicht weit – vom Räuchern mit passenden Essenzen bis hin zum Führen eines Traumtagebuchs.
Hinter diesem Boom stecke, schreibt die Pfarrerin und Trauerbegleiterin Cordelia Böttcher in ihrem «Buch der zwölf heiligen Nächte», die Sehnsucht, in der heutigen Zeit, in der überlieferte Sitten und Gebräuche nicht mehr trügen, «neu nach einer bewussten Festgestaltung zu suchen, nach der Wahrnehmung der verschiedenen Qualitäten der Zeit im Jahreslauf, in der Woche, im Tag».
Keltenwissen ist oft Pseudowissen
Was aber hat es mit den Raunächten, diesen magisch-mystischen zwölf beziehungsweise 13 Nächten, wirklich auf sich? Dass es sich um keltisches Brauchtum handle, aus jener Zeit, als noch der Mondkalender den Lauf der Zeiten bestimmte und das Mondjahr um die Wintersonnenwende herum jeweils mit dem Sonnenjahr synchronisiert werden musste, mit zwölf zusätzlichen «Niemandstagen» beziehungsweise geisterhaften Winternächten, ist zwar hin und wieder zu lesen, muss aber nicht stimmen.
Fast alles nämlich, was wir über die Kelten zu wissen glauben, ist Pseudowissen und kann in dem meisten Fällen getrost als Erfindung des 19. Jahrhunderts gelten, als in Europa eine grosse Keltenbegeisterung um sich griff. In Wahrheit ist über dieses schriftlose Volk fast nichts bekannt – und wenn, dann zumeist Propagandistisches und Verzerrtes aus zeitgenössischer Feder, zum Beispiel aus jener des römischen Feldherrn und Diktators Julius Caesar.
Götter zu Besuch in der Menschenwelt
Viel wahrscheinlicher handelt es sich bei den Raunächten um ein Überbleibsel der vorchristlichen Germanen, deren Vorstellungswelt bruchstückhaft noch heute im Brauchtum des deutschsprachigen Kulturraums weiterlebt. Um 300 nach Christus herum drangen germanische Völker, unter anderen die Alemannen, auch in das römisch kontrollierte Gebiet der heutigen Schweiz vor, verdrängten nach und nach die Römer und deren Kultur, wurden sesshaft und pflegten ihre eigene Religion, ihre eigenen Sitten und Bräuche. Anklänge und Bruchstücke haben in der einen und anderen Form vor allem im ländlichen Raum bis heute überlebt und widerspiegeln sich oft auch in Volkssagen.
Dazu gehört auch die Überlieferung, dass um die Wintersonnenwende herum die Trennwand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits besonders durchlässig sei. In diesen Tagen, die mehr Nacht als Tag sind, besuchen die Götter mit ihrem Gefolge die Menschenwelt – zum Beispiel der kriegerische Ziu mit seinem Tross, der als die sagenhafte und oft beschriebene «Wilde Jagd» unsichtbar durch die Luft braust, galoppierend, rufend, heulend und waffenklirrend.
Auch Frau Percht ist unterwegs, manchmal umgeben von wildem Gefolge, manchmal allein. Sie galt den Alemannen als Hüterin von Haus und Hof. Deshalb schaut sie, wenn sie allein als nächtliche Wanderin durch den Schnee stapft, verstohlen in die Häuser hinein, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei und vor allem, ob die Frauen auch schön am Spinnrad sässen.
Frau Percht und Königin Berta
Irgendwann verschmolz Percht mit der namensverwandten und historisch verbürgten Berta von Alemannien (907–966), die im Welschland Königin war und zu einer sagen- und legendenumwobenen Identifikationsfigur der französischsprachigen Schweiz wurde. Insbesondere galt die Gründerin des Klosters Payerne in der Waadt auch als Schirmherrin der Spinnerinnen und Idealbild der guten Hausfrau.
Häuslich geht es auch im überlieferten Brauchtum rund um die Raunächte zu. Im Alpenraum war – und ist es zum Teil heute noch – üblich, in den Raunächten mit der Räucherpfanne feierlich durch Haus und Stall zu ziehen und die bösen Geister zu vertreiben. Das Räuchern ist denn auch der Grund, weshalb die zwölf magischen Nächte so heissen, wie sie eben heissen: Rauchnächte, verschliffen zu Raunächten.
Ursprünglich nur vier Raunächte
Das Wörterbuch der deutschen Volkskunde von Oswald A. Erich und Richard Beitl weiss von einer weiteren Namensdeutung. Raunächte seien es auch deshalb, weil in dieser Zeit – ursprünglich nur am 21. Dezember, Weihnachten, Neujahr und Dreikönig – raue Gestalten unterwegs sind wie etwa im Berner Oberland und in ihren Fellgewändern und Masken lärmend die Dämonen des Übergangs und des Winters vertreiben.
Dass die Raunächte etwas mit der Wintersonnenwende und den Alemannen zu tun haben, ist volkskundlich breit anerkannt. Warum es gerade die zwölf Nächte zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar sind, geht jedoch auf das Christentum zurück. Am 24. Dezember feierte man im alten Rom den sehr populären Gott Sol Invictus (die unbesiegbare Sonne) und später, als das Christentum Staatsreligion wurde, die Geburt Christi. Der 6. Januar hatte als der vermutete Termin der Taufe Jesu am Jordan ebenfalls eine herausragende Bedeutung – so sehr, dass frühe Christen die Geburt Jesu auch gleich an diesem Tag feierten.
Als einige Tage einfach verschwanden
Die Sache mit den zwölf oder 13 Tagen hat auch noch einen anderen Hintergrund: Im Jahr 1582 schaltete Westeuropa vom Julianischen auf den Gregorianischen Kalender um. Dies sorgte dafür, dass der 24. Dezember beziehungsweise Heiligabend um 13 Tage nach hinten rutschte. Gleichzeitig fand die «alte» Heilige Nacht erst am 6. Januar des neuen Kalenders statt – so, wie es Millionen von Orthodoxen noch heute halten. Die Erinnerung an den alten Kalender hat sich auch in reformierten Gegenden erhalten: Betagte Emmentaler Bauern zum Beispiel berichten, dass man den 6. Januar noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als den «alten heiligen Tag» bezeichnet habe.
Der 1978 verstorbene Emmentaler Bauerndichter Hans Steffen («Es git no Sache änedrda») hat sich ebenfalls mit der magischen Zeit der Wintersonnenwende befasst. Die Schriftstellerin Anouchka von Heuer (1945–2016), eine ehemalige Bekannte des Dichters, schildert in ihren schriftlichen Erinnerungen, wie sich Hans Steffen dazu äusserte. Er bezeichnete dieses alljährliche Ereignis als eine Lebenswende, die mit mächtiger Kraft auf alles einwirke. Auf der Erde würden die Auswirkungen aber immer erst zwei bis drei Tage, also um den 23. und 24. Dezember herum, spürbar. Die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember nannte Steffen die Mutternacht des neuen Lebens, den eigentlichen Jahresbeginn. Darauf folgten die so genannten Raunächte, in der sich das Leben neu einpendle.
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Raunächte: Wenn die Wand zwischen Diesseits und Jenseits dünn ist