Romeo und Julia in den Bergen
Als Kind habe ich nie über das Leben meiner Grosseltern nachgedacht. Sie waren einfach immer schon da und immer schon alt. Dass Grosseltern selber auch mal junge Menschen mit einem komplizierten Leben waren, wurde mir erst als Teenager bewusst, als mir mein Nani nach dem Tod des Nenis ihre Liebesgeschichte erzählte.
Mein Nani wächst in einem katholisch geprägten Bündner Dorf auf. Ihr Vater ist engagiertes Mitglied der protestantischen Minderheit. Das Leben ist karg und der Bergbauernhof, auf dem sie leben, ist so steil gelegen, dass man ihn nur zu Fuss erreicht. Jede Hilfe kommt gelegen, im Sommer 1950 kommt sie vom katholischen Cousin aus dem Bündner Oberland.
Zwei junge Menschen treffen sich auf einem einsamen Bauernhof – und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Das Mädchen, mit 18 zwar ehefähig, aber damals noch nicht mündig, benötigt für die Heirat das Einverständnis seines Vaters. Der ist von der Schwangerschaft seiner Tochter noch weniger begeistert als von der Aussicht auf einen katholischen Schwiegersohn. Er gibt seine Einwilligung unter zwei Bedingungen: Die Hochzeit muss heimlich erfolgen und das Kind reformiert getauft werden.
So heiraten meine späteren Grosseltern lediglich zivil im benachbarten Kanton St. Gallen. Spätestens mit der reformierten Taufe ihrer Tochter ist es aber mit der Heimlichkeit vorbei; der junge Vater bleibt zwar katholisches Kirchenmitglied, wird aber von der Beichte ausgeschlossen. Und auch mit dem Schwiegervater gibt es keine Versöhnung. Erst nach dessen Tod kommt das junge Paar ins Dorf zurück und übernimmt den elterlichen Hof.
Doch die Beziehung hält den Widrigkeiten stand, die Liebe ist gross genug. Die Anzahl der Kinder, acht sind es mittlerweile, ebenso. Die 1970er-Jahre bringen frischen Wind in die Kirche: Ein neuer Kapuzinerpater im Dorf steigt den steilen Hang hinauf zum Bauernhof und verheiratet das inzwischen nicht mehr so junge Paar ökumenisch – mehr als 25 Jahre nach ihrer ersten Hochzeit.
Eine Liebesgeschichte wie jene von Romeo und Julia – die Beharrlichkeit, wie die beiden gegen alle Anfeindungen gekämpft haben, hat mich als 15-Jährige tief beeindruckt.
Romeo und Julia in den Bergen