Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Sans-Papiers: Hoher Preis, tiefer Lohn

von Silvana Pasquier
min
24.08.2020
Sans-Papiers wie Sanella leben zwar unter uns, doch sie müssen sich stets unsichtbar machen. Die Angst, entdeckt zu werden, ist ihr ständiger Begleiter.

«Eigentlich habe ich mich längst daran gewöhnt. Ich gehe zur Arbeit, mache Einkäufe, treffe Freunde. Und doch ist die Angst immer da.» Seit bald zehn Jahren lebt Sanella* in der Schweiz: -illegal, ohne Aufenthaltsbewilligung. Mit Mitte zwanzig kam sie aus Bosnien nach Zürich, dann zog sie nach Bern, wo sie bis heute lebt. Daheim gab es für sie, die eine Lehre als Büroangestellte absolviert hatte, keine Perspektiven. Dass sie in der Schweiz aufgrund ihres Herkunftslandes – Bosnien gehört nicht zu den EU- und EFTA-Staaten – keine offiziellen Papiere bekommen würde, war Sanella damals nicht bewusst. «Ich hatte Bekannte in der Schweiz, die beschafften mir schnell Arbeit, das war für mich das Wichtigste.» So begann Sanella in Privathaushalten zu putzen, zu bügeln, einzukaufen und zu kochen. Das tut sie

bis heute: Viermal die Woche in drei Haushalten, den Lohn kriegt sie bar auf die Hand, im Monat ist das etwas über 900 Franken. Das muss reichen für Miete, Essen, Kleidung, Medi-kamente, Bahn- und Tramfahrten. «Manchmal leiste ich mir etwas dazu – Frauenzeitschriften oder ein Essen im Restaurant –, doch das kommt selten vor.»

Kein Einzelfall

Sanella ist kein Einzelfall. Laut Schätzungen leben zwischen 90 000 und 250 000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Die meisten dieser «Sans-Papiers» sind hier, weil sie Arbeit brauchen. Die Frauen sind mehrheitlich in Privathaushalten tätig, ungefähr 40 000 sollen es sein. 20 Prozent stammen wie Sanella aus Osteuropa, die Mehrheit kommt aus Lateinamerika. Ihr Durchschnittsalter beträgt 38 Jahre, rund ein Viertel von ihnen sind alleinstehend, die meisten alleinerziehende Frauen. 

Weil Sans-Papiers selber keine Wohnung mieten können, kommen sie wie Sanella bei Bekannten unter. «Ich habe Glück, ich lebe in der Wohnung einer Freundin aus Bosnien. Wir verstehen uns gut, kochen miteinander, reden viel.» 

Trotzdem belastet Sanella das Gefühl, permanent abhängig zu sein: von ihrer Freundin, von den Menschen, die ihr Arbeit geben, und allen anderen, die sie hier in der Schweiz kennengelernt hat und denen sie vertrauen muss, dass sie sie nicht ver-raten. Sanella erzählt von einem älteren Mann, für den sie vor Jahren den Haushalt machte und der plötzlich von ihr sexuelle Dienste einforderte, andernfalls werde er sie bei der Polizei melden. Andere würden sich nicht an den vereinbarten Lohn halten. «Die meisten aber sind nett», sagt Sanella. «Manchmal bieten sie mir Kuchen an.»

«Ich war schweissnass»

Die Angst, entdeckt und aus der Schweiz ausgeschafft zu werden, ist ein ständiger Begleiter von Sanella. Einmal vergass sie, ein Trambillett zu lösen. Kaum eingestiegen, hatte sie es bemerkt. «Die kurze Fahrt bis zur nächsten Station war die Hölle. Als ich ausstieg, war ich schweissnass.» Diese Angst macht auch, dass Sanella um keinen Preis auffallen will. Sie kleidet sich immer korrekt, ist nie laut, sie steht nicht in Parks herum und meidet Orte, wo sich andere Ausländer aufhalten. «Ich bin angepasster als jede Schweizerin», scherzt Sanella. 

Über die Zukunft macht sich Sanella immer öfter Gedanken. «Ich bin schon Mitte Dreissig und möchte eigentlich noch Familie.» Sie kennt andere Sans-Papiers mit Kindern, die -gemäss Gesetz den obligatorischen Schulunterricht besuchen dürfen. «Doch was kommt dann? Welche Chancen hat das Kind einer Mutter, die in ständiger Angst leben muss, verhaftet zu werden?» Sanella weiss: Je länger sie in der Schweiz bleibt, umso schwieriger wird es sein, nach Bosnien zurückzukehren, dort Arbeit zu finden und Fuss zu fassen. «Es ist ein hoher Preis für wenig, den ich zahle. Doch hier kann ich wenigstens überleben.»

* Name geändert

Klaus Petrus, 24.9.2020, Kirchenbote

 

Unsere Empfehlungen

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.
Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Die Anwältin Nina Burri ist Fachperson für Wirtschaft und Menschenrechte beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Sie verfolgt den Prozess, den bedrohte Fischer gegen Holcim anstreben.
Teuerung trifft die Ärmsten

Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.