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Schweizer Einbürgerungspraxis behindert die Integration

von Marius Schären, reformiert.info
min
17.12.2021
Der Ständerat will kein Recht auf Einbürgerung für hier Geborene. Doch eine Fallsammlung zeigt: Die aktuelle Praxis ist für die über 2 Millionen Ausländer im Land nicht integrationsfördernd.

Für Noémi Weber gab es am 14. Dezember 2021 eine Niederlage und eine Hoffnung: Eine Motion zur Einbürgerung von in der Schweiz Geborenen («ius soli») lehnte der Ständerat ab, eine andere für die Einführung der erleichterten Einbürgerung von ausländischen Menschen der zweiten Generation wurde an die zuständige Kommission zur Vorprüfung überwiesen.

Weber ist Geschäftsleiterin der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA). Dass die Motion für das «ius soli» von Paul Rechsteiner (SP) abgelehnt würde, sei zu erwarten gewesen. Aber: «Das Argument von Bundesrätin Karin Keller-Sutter, dass dann Geburtentourismus entstünde, lässt sich einfach widerlegen. Man könnte in den Bestimmungen ganz einfach festlegen, dass man den Wohnsitz in der Schweiz haben muss, um das Bürgerrecht zu erhalten – oder andere zusätzlich einschränkende Bedingungen festlegen.»

«Erfreulich» findet Noémi Weber, dass die andere Motion zum Bürgerrecht von Lisa Mazzone (Grüne) nicht direkt abgelehnt wurde. «Immerhin wird sich die Kommission vertieft mit dem Anliegen befassen und hoffentlich die Motion zur Annahme empfehlen.»

Hier geboren und zur Schule – und «nicht genügend integriert»
Wie es Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation zurzeit ergehen kann, zeigt beispielsweise der Fall von Tahia (Name geändert). Ihre Eltern reisten 2004 in die Schweiz ein und stellten ein Asylgesuch. Kurz darauf kam Tahia zur Welt, die Familie wurde vorläufig aufgenommen. 2016 stellte das Mädchen ein Gesuch um ordentliche Einbürgerung. Es folgten Abklärungen, Ende 2017 ein Einbürgerungsgespräch mit Tahia beim Bürgerrechtsausschuss der Gemeinde – und einige Monate später die Information, das Einbürgerungsgesuch würde abgelehnt.

Unter anderem hiess es in der Begründung: Der Ausschuss habe mit Bedauern feststellen müssen, dass Tahia sich nicht genügend in die hiesigen Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuche integriert habe. Und im Gespräch sei nicht erkennbar gewesen, dass sich ihr Wille zur Integration in Zukunft verstärken werde.

Ein Anwalt setzte sich für Tahia ein. Gemäss Protokollauszug hat der Ausschuss Tahia beispielsweise nach ihrem Bruder gefragt und dessen Verhalten sowie nach dem Kopftuch einer Verwandten. Der Anwalt kritisierte, dass irrelevante Fragen gestellt und zudem nicht das ganze Gespräch protokolliert worden sei. Schliesslich liess sich der Ausschuss umstimmen und nahm die kopftuchtragende Tahia ins Gemeindebürgerrecht auf.

Eine Fallsammlung der Willkür
Dieser Fall trägt die Nummer 407 in der öffentlich einsehbaren Datenbankder Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. Die vielfältigen Geschichten enden unterschiedlich, mit Annahme, Ablehnung oder langer Bank für das Einbürgerungsgesuch. Alle aber zeigen: Es ist nicht einfach, hier das Bürgerrecht zu erhalten. Und die Gründe für ein Nein sind nicht selten unverständlich und wirken willkürlich.

Ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung – 2.2 Millionen Menschen – hat keinen Schweizer Pass. Über 420'000 davon sind hier geboren. Trotzdem haben sie nicht die gleichen Rechte wie Menschen mit Schweizer Pass und auch kein Recht auf politische Mitbestimmung. Im europäischen Vergleich hat die Schweiz eines der restriktivsten Einbürgerungsverfahren. Das totalrevidierte und verschärfte Bürgerrechtsgesetz (BüG) ist seit 2018 in Kraft.

Vor allem Junge sind benachteiligt
SBAA-Geschäftsleiterin Noémi Weber kritisiert das Verfahren in der Schweiz scharf: «Die Voraussetzungen für die Einbürgerung sind zu hoch, die Verfahren zu unterschiedlich. Das neue Gesetz muss angepasst und die Praxis dringend vereinfacht werden.» Mit der Revision wurden die Hürden in manchen Bereichen zuletzt aber erhöht.

Vor 2018 konnten sich auch Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung (B) oder einer vorläufigen Aufnahme (F) einbürgern lassen. Jetzt geht das nur noch mit einer Niederlassungsbewilligung (C) (und zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz). Der neue Fachbericht zeige, dass gerade mit der neuen Bestimmung im Gesetz vor allem viele junge Personen, die hier geboren oder als Kinder in die Schweiz gekommen sind, sehr lange vom Schweizer Bürgerrecht ausgeschlossen blieben, hält Weber fest.

Voraussetzungen des Bundes sind nur Mindeststandard
Nebst den formellen müssen auch materielle und «Integrationskriterien» erfüllt sein. Man darf beispielsweise mindestens drei Jahre lang keine Sozialhilfe bezogen haben – oder etwa im Kanton Bern mindestens zehn Jahre –, muss die öffentliche Sicherheit und Ordnung beachten, die Werte der Bundesverfassung respektieren, sich in einer Landessprache verständigen können, am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung teilnehmen und die Integration von Familienmitgliedern unterstützen.

Das Beispiel mit der Sozialhilfe weist dabei auf ein Problem hin: «Die kantonalen und sogar lokalen Unterschiede sind extrem gross», sagt Noémi Weber. Das gelte für die Voraussetzungen selbst, Kosten und für die Umsetzung der Kriterien. Die dokumentierten Fälle zeigten, dass die Kriterien zu rigide angewendet werden. Beispielsweise führte ein Selbstunfall im Verkehr zur Sistierung eines Gesuchs, oder die fehlende Kenntnis lokaler spezifischer Details zur Ablehnung – obwohl die Kriterien des Bundes solche Kenntnisse nicht einmal verlangen in der heutigen Zeit mit tendenziell häufigeren Wechseln des Wohnortes.

Hier Integration verlangen – dort behindern
Und in einem Punkt sieht Noémi Weber einen «besonders krassen Gegensatz»: bei der Integration. «Verschiedene Studien belegen, dass die Einbürgerung nachweislich die Teilhabe und Integration beschleunigt.» Zugleich sei aber für die Politik und die Behörden in der Schweiz genau dies der letzte Schritt im Prozess – wo die gelungene Integration praktisch bewiesen werden müsse als Voraussetzung für die Einbürgerung. «Die SBAA fordert daher dringend, dass auch Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung oder einer vorläufigen Aufnahme ein Einbürgerungsgesuch stellen können», sagt Weber.

Aus ihrer Sicht müssten weitere Verbesserungen im Verfahren folgen: Die Aufenthaltsdauer verringern, auf kommunaler Ebene nur Fachgremien die Gespräche führen lassen, diese protokollieren, Abstimmungen über Einbürgerungen an Gemeindeversammlungen abschaffen, die Gebühren senken. Gerade im letzten Punkt verletze die Schweiz ihre völkerrechtliche Verpflichtung: Gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention wäre sie bei anerkannten Flüchtlingen verpflichtet, die Verfahren zu beschleunigen und die Gebühren zu senken. Insgesamt müssten Einbürgerungsverfahren «fairer, chancengerechter und ohne Diskriminierung ausgestaltet werden und kein Privileg darstellen», fordert die SBAA.

Marius Schären, reformiert.info

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