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«Sehen Sie liebevoll und dankbar auf jeden einzelnen Tag»

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22.12.2016
Viele fühlen sich vor Weihnachten gestresst und oft wird es auch im neuen Jahr nicht besser: Der Terminkalender ist voll. Der Theologe und Bestsellerautor Werner Tiki Küstenmacher plädiert dafür, das Leben zu vereinfachen. Sein Motto Entrümpeln bringt Freiheit – in sämtlichen Belangen.

Herr Küstenmacher, in Kürze beginnt das neue Jahr. Viele haben schon eine volle Agenda und stöhnen über die verplante Zeit.
Schon Goethe hat über das immer hektischer werdende Zeitalter gestöhnt, in dem er leben musste. Solche Rückblicke sind mein wichtigster Tipp gegen Zeitnot. Es hängt von mir selbst ab, wie sehr ich mich durch das Thema Zeit verrückt machen lasse. Prinzipiell ist die Ausgangslage ja gerecht: Jeder Mensch hat gleich viel, 24 Stunden pro Lebenstag. Es gibt den schönen Spruch «Gott hat die Zeit erschaffen, damit nicht alles gleichzeitig geschieht.»

In Ihren Büchern plädieren Sie dafür, das Leben zu vereinfachen. Kann Aufräumen das Leben verändern?
Entrümpeln kann einen Menschen freier und leichter machen. Unser Innenleben und unsere äussere Umgebung sind miteinander verbunden. Wenn ich meinen Arbeitstisch aufgeräumt habe und nicht mehr auf Stapel vor mir schauen muss, geht es mir besser, jedes Mal.

Trotzdem, viele haben einen unaufgeräumten Schreibtisch und fühlen sich wohl.
Ich bin kein Ideologe. Es gibt Menschen, die ihre kleinen Voralpen auf dem Schreibtisch brauchen, weil sie für sie ein Sinnbild sind, gleichsam aus dem Vollen zu schöpfen. Es gibt auch Menschen, die ohne jede Hilfestellung alle ihre Dinge stets prima in Schuss haben. An diese beiden Gruppen wende ich mich nicht, sondern eher an die Leute in der Mitte. Menschen, die es gern ordentlicher hätten, aber nicht wissen, wie. Bei den meisten fehlt es nur an der richtigen Methode.

Was schlagen Sie vor?
Erstens soll man sich nicht überfordern. Keine übertriebenen Gewaltaktionen, sondern im menschlichen Mass bleiben. Nehmen Sie sich ein Projekt vor, das Sie in ein, zwei Stunden schaffen können. Zweite Regel: Was Sie sich vorgenommen haben, radikal angehen. Also alle Sachen runter von der Arbeitsplatte, Schublade komplett leerräumen, alles raus aus dem Kleiderschrank. Dadurch wird ein zauberhafter kleiner Mechanismus in Gang gesetzt: Wenn Sie die leere Schublade oder die freie Oberfläche erst einmal vor sich sehen, wollen Sie die nicht wieder vollstellen. Da überlegen Sie sich ganz genau, welcher Gegenstand dort wieder drauf oder hinein darf und welcher nicht.

Von Albert Einstein gibt es das Zitat «wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über einen Menschen aus?» Ist Unordnung nicht auch eine Quelle für Kreativität?
Ach, was der arme Albert Einstein alles gesagt haben soll! Es gibt Phasen während einer schöpferischen Arbeit, da sind Sie umgeben von massenhaft Zetteln, aufgeschlagenen Büchern, vielen geöffneten Fenstern auf dem Bildschirm. Aber jede kreative Arbeit besteht auch aus Zusammenfassen, Vereinfachen, dem Weglassen von Überflüssigem, sich von etwas trennen. Es ist sinnvoll, das auch materiell auszudrücken und zwischendrin immer wieder klar Schiff zu machen. Sonst wird man wahnsinnig mit all den vielen Dingen. Kreativität hat immer mit beidem zu tun, Chaos und Ordnung.

Für Sie gehört auch Geld zum «Gerümpel». Sie behaupten, man könne nur dann Geld verdienen, wenn man es loslassen kann. Ist dies nicht ein Widerspruch?
Auf den ersten Blick schon. Aber ich merke, dass Menschen mit einem unverkrampften Verhältnis zum Thema Geld leichter zu besseren Einnahmen kommen. «Wer zu viel arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu verdienen», lautet ein kluger Rat. Man sollte immer wieder einmal Abstand zum täglichen Trott gewinnen und fragen: Muss mein Beruf bis zum Ende meines Lebens so aussehen? Was steckt noch in mir drin? Dabei kann als Ergebnis auch herauskommen, dass jemand in einem neuen Beruf weniger verdient, aber viel glücklicher und gesünder ist. Dann ist er auf eine andere, tiefere Art reicher geworden.

Neben Geld wird unser Leben von Beziehungen geprägt. Heute ist bald die Hälfte aller Paare geschieden. Herrscht auch in Sachen Liebe Chaos?
Liebe kann man nicht befehlen, nicht sich und nicht dem anderen. Ich glaube nicht, dass sich verheiratete Paare früher mehr geliebt haben als heute. Damals sind sie auf Grund äusserer Zwänge zusammengeblieben, heute ist die Freiheit grösser. Es gibt ja auch Partnerschaften, bei denen die Trennung wahrhaftig ein Gottesgeschenk sein kann. Ausserdem werden die Menschen heute viel älter, die Ehen dauern schon deswegen viel länger.

Das Leben gleicht eher einem Wildbach, in dem es rauf und runter geht. Ist es nicht falsch, wenn man auf eine Ordnung vertraut?
Natürlich erleben wir unser Leben als Auf und Ab. Aber zugleich erlebe ich es als Fortschritt. Ich werde erwachsener, klüger, lerne dazu, mache Erfahrungen. Auch die Menschheit wird kontinuierlich besser. Wir leben länger, die Einkommen aller Menschen steigen. 1980 verdienten 45 Prozent der Weltbevölkerung weniger als ein Dollar pro Tag, die Grenze bei der laut UN-Definition Hunger und Elend beginnen. Heute liegt der Anteil dieser Menschen unter zehn Prozent und sinkt weiter. Weil gleichzeitig auch die Reichen reicher geworden sind, kann man das auch als negative Botschaft ausdrücken und sagen, dass die Unterschiede immer grösser werden. Aber der Hunger ist definitiv auf dem Rückzug. Ich sehe in der evolutionären Anlage dieser Welt die Weiterentwicklung als Grundprinzip. Gott hat die Welt inklusive diesem ihr innewohnenden Prinzip geschaffen.

Als Theologe räumen Sie der Spiritualität einen grossen Raum ein. Hilft der Glaube, die Seele in dieser hektischen Zeit ins Lot zu bringen? Etwa durch das Gebet?
Gebet ist ein grossartiger Weg, sich aus dem Trott und dem Strudel des Alltäglichen zu befreien. Es gibt auch Gebete ohne Worte. Der stille Besuch einer leeren Kirche, das Betrachten einer Kerzenflamme oder das Einatmen frischer Luft in der Natur kann ein Gebet sein. Eben das Wissen: Das Leben ist grösser als ich. Es ist nicht selbstverständlich, dass es mich gibt. Ich bin dankbar dafür.

War Jesus ordnungsliebend? Er lief ja gegen die Traditionen und die moralischen Regeln an, wenn er predigte, dass das Gesetz für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.
Das ist schwer zu sagen. Seine Zeitgenossen betrachteten ihn als Fresser und Weinsäufer, also jedenfalls nicht als Asketen, von denen es damals offenbar einige gab. Jesus besass in der Zeit seiner Tätigkeit als Wanderprediger bestimmt nur das Allernötigste. Es gibt von ihm den schönen Satz, dass wir uns nicht Schätze auf Erden sammeln sollen, sondern Schätze im Himmel. Geistlich lernen, spirituelle Erfahrungen sammeln, das war für ihn ein positiver Begriff. Man darf dabei nicht vergessen, dass Jesus kinderlos war. Wer für seinen Nachwuchs sorgen muss, hat ein ganz anderes Verhältnis zu Dingen und auch zu Ordnung.

Haben Sie einen Tipp, wie man das neue Jahr besser in den Griff bekommt?
Sehen Sie nicht ganze lange Jahr mit all seinen Aufgaben und Herausforderungen vor sich wie einen riesigen Berg. Sehen Sie liebevoll und dankbar auf jeden einzelnen Tag, auf jedes Teilstück Ihrer Lebenswanderung, auf jeden Augenblick.

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 22. Dezember 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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