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«Seismograph antijüdischer Entwicklungen»

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29.09.2016
Bibelwissenschaftler Ekkehard Stegemann würdigt die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz CJA, die seit 70 Jahren Antisemitismus bekämpft. Die Arbeit der CJA brauche es nach wie vor, da antijüdische Vorurteile selbst in kirchlichen Organisationen wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen ÖRK und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS lebendig seien.

Ekkehard Stegemann, die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz CJA wurde kurz nach Ende des 2. Weltkriegs 1946 gegründet und feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. In der öffentlichen Debatte ist das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinschaft und den Christen hierzulande kaum ein Thema. Wozu braucht es die CJA heute noch?
Dass das Verhältnis zwischen Juden und Christen in der Schweiz kaum ein Thema ist, gilt zwar weithin noch, wenn es um «schwarze» Stereotypen, also um bekannte antijüdische Vorurteile, geht. Doch selbst diese werden vor allem im Internet weiterhin bewirtschaftet wie beispielsweise im Buch von Tilmann Knechtel «Die Rothschilds – eine Familie beherrscht die Welt». Sie finden es bei Amazon bereits in der siebten Auflage. Das Werbe-Info zu diesem Buch könnte direkt aus dem nationalsozialistischen «Stürmer» stammen. Dazu kommen aber auch neue Konfliktthemen. Damit sie benannt werden, braucht es auch künftig die CJA, weil sie eine Institution ist, in der Christen aller Konfessionen und Juden aller Richtungen zusammenkommen, diskutieren, auch über Konfliktthemen, und nötige Aufklärungen dazu erarbeiten. Die CJA versteht sich als Seismograph für Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die eben nie völlig antisemitismusfrei ist.

Menschen jüdischen Glaubens leben politisch, ökonomisch und sozial in der Schweiz bestens integriert. Antisemitismus ist weitgehend überwunden. Täuscht dieser Eindruck?
Der Hydra wachsen immer wieder Köpfe. Antisemitismus ist die barbarische Unterseite unserer Zivilisation. Und es gibt Anlass, immer wieder das ABC zu lernen und zu lehren, das heisst aufzuklären. Besonders wichtig und geradezu fatal ist, dass die Tabuisierungsschwelle im Sinken begriffen ist. So werden drastische judenfeindliche Äusserungen heute in der Gestalt der modernen Variante des Anti-Israelismus kommuniziert. Dies gilt nicht einfach nur für den rechten Rand, sondern kommt heute aus der Mitte der Gesellschaft.

Jetzt haben Sie Deutschland im Blick …
Das ist in Deutschland vielleicht deutlicher zu spüren als in der Schweiz. Aber wer aufmerksam im Internet und vor allem in den Kommentarspalten digitaler Zeitungen liest, kommt aus dem Gruseln nicht mehr heraus. Erinnert sei nur an die so genannte «Beschneidungsdebatte», die vor allem im Jahr 2012 auch in der Schweiz intensiv geführt wurde. Dabei wurde die Beschneidung auf Facebook und Twitter, aber auch in Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als «barbarisches Ritual», als «Kinderverstümmelung», als «Verbrechen einer antiquierten Religion», als «perverse Säuglingsfolter» und so weiter geschmäht. Und das steht immer noch im Netz, so dass das antisemitische Gift öffentlich weiterhin wirksam bleibt.

Wenn man sieht, wie gewaltsam Israel bisweilen gegen die palästinensische Bevölkerung im besetzten Gaza-Streifen vorgeht, ist Kritik gegen Israel doch wohl berechtigt …
Das wird von vielen so gesehen. Meines Erachtens überschreitet aber vieles, was sich für «Israelkritik» hält, die Grenze zum antisemitischen Anti-Israelismus. Dann bedeutet diese «Kritik» an Israel allerdings einen Quantensprung, denn die eigentliche Grundlage solcher Kritik ist eine Obsession. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen HEKS zum Beispiel unterstützt im Fahrwasser des Ökumenischen Rates der Kirchen ÖRK vor allem antiisraelische Aktionen. Das ist politisch einseitig, zumal es in Israel viele gute palästinensisch-israelische Projekte gibt wie etwa das Friedensdorf Newe Shalom, die ebenfalls Unterstützung verdient hätten. Die Kritik auch vieler NGOs geht sogar so weit, dass sie das Verschwinden eines israelischen Staates befürworten. Für mich ist da eine Dämonisierung Israels im Gange.

Sie kritisieren das HEKS, es sei einseitig politisch. Selber aber sagen Sie, die CJA müsse durch Bildungsarbeit antijüdischen, gegen Israel gerichteten «schwarzen Stereotypen» entgegentreten und darüber aufklären. Damit betritt die CJA unweigerlich das politische Feld der Auseinandersetzung. Ein Widerspruch?
Meine Frage ist, kann das HEKS im Auftrag der Kirche zum Beispiel die Migros zum Boykott israelischer Produkte auffordern? Das HEKS beruft sich darauf, im Namen unterdrückter Minderheiten (advocacy) seine Stimme für mehr Gerechtigkeit zu erheben. Gut, aber ich kritisiere, dass das HEKS dies einseitig tut. Ich kann eine Reihe von NGOs in Israel nennen, die wirklich Unterstützung bräuchten, diese aber nicht erhalten, weil sie nicht unter dem Titel «Menschenrecht» antiisraelische Propaganda betreiben.

Zum Beispiel?
Der ÖRK hatte während der Passionszeit zu einem siebenwöchigen Wasserfasten aufgerufen. Dies wurde mit der bodenlosen Lüge untermauert, Israel würde den Palästinensern den Zugang zu Wasser verwehren. Das HEKS nahm diese Geschichte bereitwillig auf und verbreitete sie. Ein anderer Fall ist die aktuelle Petition, die sich gegen die Blockade des Gazastreifens wehrt. Wenn man die Politik Israels schon Blockade nennen will, müssen die Petitionäre aber auch auf die Ursachen hinweisen. Diese liegen in den Terrorinfiltrationen nach Israel und dem massiven Raketenbeschuss der israelischen Zivilbevölkerung aus Gaza. Zudem sollten die Petitionäre nicht verschweigen, dass die Israelis täglich hunderte von Lastwagen mit Hilfsgütern, etwa Nahrungsmitteln und Medikamenten, nach Gaza bringen. Diese Dinge werden völlig ausgeblendet. Stattdessen wird einseitig die Hamas-Diktion übernommen. Damit wird mit Blick auf Israel wieder an antijüdische Stereotypen angeknüpft. Diese Kreise bedienen damit nachhaltig eine antiisraelische Stimmung. Ich denke, dafür haben der ÖRK und das HEKS kein politisches Mandat.

Was war der Anlass, die CJA in der Schweiz ins Leben zu rufen?
Anlass war 1946 das Erschrecken und die Scham darüber, dass mitten im angeblich christlichen Europa das schauerlichste Verbrechen, der Völkermord an den Juden, geschehen konnte. So wurde zur Bekämpfung des Antisemitismus 1946 die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft in Zürich von Juden und Christen gemeinsam gegründet. Dabei war der CJA wichtig, dass sie Christen an ihrer Seite wusste, die sagten, wir müssen uns im Verhältnis zum Judentum reformieren und die historische Last des Antijudaismus aufarbeiten. Ein weiterer Anlass war, dass dieser «Gräuel der Verwüstung» nicht nur in einer Geschichte des rassistischen Antisemitismus der Neuzeit Wurzeln hat, sondern auch in einer Linie mit der Geschichte der Judenfeindschaft und des Hasses steht, die wiederum auch im christlichen Antijudaismus Wurzeln hat. Mehr noch: dieser schaurige Massenmord ist durchaus von christlicher Judenfeindschaft begleitet und unterstützt worden. Es gab eine «Lehre der Verachtung» (Jules Isaac) der Juden und des Judentums im Christentum. Diese Lehre steht weiterhin in den christlichen Quellen der Vergangenheit.

Welches sind die Aufgaben der CJA heute?
Die Arbeit der CJA reagiert auf die politischen Diskurse und meldet sich dort zu Wort, wo Antisemitismus und Antijudaismus auftauchen. In der Regel besteht die Arbeit der CJA in Aufklärungsarbeit im Blick auf Antisemitismus und seine christliche Geschichte. Die CJA versucht Verzerrungen gegenüber dem Judentum zu kritisieren, und sie versucht, durch theologische Debatten zwischen Judentum und Christentum und umgekehrt zu vermitteln und Brücken zu bauen.

Was waren in den vergangenen Jahren aus Sicht der christlichen Kirchen besondere Herausforderungen im christlich-jüdischen Dialog in der Schweiz?
Aus Sicht der christlichen Kirchen war institutionell wichtig, dass die christlichen Gemeinden und die jüdischen Gemeinden gemeinsame Projekte durchgeführt haben – in Basel fand das etwa in den Christlich-Jüdischen Projekten seinen Ausdruck. Damit wurde das Verständnis zwischen beiden Religionen vertieft. Weiter ist der Schweizerische Rat der Religionen zu nennen, wo alle Religionen vertreten sind. Im Blick auf solche Institutionalisierungen haben die Kirchen von der interreligiösen Arbeit, die die CJA als erste begonnen hat, gelernt. Als Herausforderung für die Kirchen sehe ich, wie sie mit dem antijüdischen, Israel dämonisierenden Diskurs umgeht. Gleiches gilt für den Umgang mit antijüdischen, bisweilen gar antisemitischen Diskursen, die nicht speziell mit Israel verbunden sind.

Welche theologischen Klippen hatte die CJA in den vergangenen Jahren zu meistern?
Im Fahrwasser des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) gab es christliche theologische Strömungen, die sich auf das Judentum zu bewegten. Es hiess, wir sind zwar getrennt, aber durch ein geistliches Band untrennbar miteinander verbunden. In der Folge beantwortete die Rheinische Kirche in Deutschland in den 80er-Jahren erstmals in einer Stellungnahme die Frage, wie sich die protestantische Kirche zum jüdischen Staat Israel stellt, mit der Feststellung, die Existenz des Staats Israel ist Ausdruck der Treue Gottes zu seinem Volk. Damit wurde die Lehre von der fortwährenden Erwählung Israels als Volk Gottes (die zuvor in der Absage an die Lehre der Verwerfung erarbeitet wurde) erstmals ausgedehnt auf den Staat Israel. Damit wird der Zionismus und seine Geschichte zu einem Thema in der theologischen Debatte, die die CJA auch im Blick auf die blühende Kultur Israels bis heute mit Vorträgen und Veranstaltungen begleitet.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Interview: Wolf Südbeck-Baur / Kirchenbote / 29. September 2016

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