Sie jagt den Wolf und findet sich selber
Atemlos hetzt Sibel durch den Wald. Die 25-Jährige sucht einen Wolf, um den sich im Dorf zahlreiche Mythen ranken. Erlegt sie ihn, so hofft sie, wird die Dorfgemeinschaft sie endlich als vollwertiges Mitglied akzeptieren. Sibel ist stumm und wird ausgegrenzt. Die Kamera folgt der jungen türkischen Schauspielerin Damla Sönmez stets ganz nahe, die die Hauptfigur mit einem packendem Spiel verkörpert.
«Sibel» erhielt letzten August den Preis der ökumenischen Jury am Filmfestival Locarno. Der Film erzähle die Emanzipationsgeschichte einer weiblichen Hauptfigur, begründet der Filmpublizist Charles Martig. «Sibel stellt die patriarchalische Strukturen des Dorfes in Frage und wird so zum Beispiel für die Würde der anderen Frauen in der Gemeinschaft», so der Direktor des katholischen Medienzentrums in Zürich.
Archaische Kraft
Zunächst jedoch wird Sibel von den anderen Frauen herablassend behandelt. Im Wald hat sie sich ein kleines Refugium geschaffen, das sie immer wieder aufsucht. Sibel trägt Züge eines enfant sauvage, obwohl sie im Dorf mit ihrem Vater, dem Bürgermeister, und der Schwester aufwächst – die Mutter ist schon lange verstorben. Auch wegen der naturalistischen Ästhetik des Films strahlt Sibel eine archaische Kraft aus. Kommt hinzu, dass sie sich durch eine faszinierende, traditionelle Pfeifsprache ausdrückt, die es in der Bergregion am Schwarzen Meer, in der der Film spielt, in Wirklichkeit gibt. So können sich die Menschen über grosse Distanzen hinweg differenziert verständigen.
Im Laufe der Geschichte widersetzt sich Sibel immer stärker den traditionellen Normen des Dorfes. Dabei werde sie von ihrem Vater gestützt, betont Charles Martig. «Der Vater ist zwar ein Patriarch, doch indem er seiner Tochter Freiheiten lässt, spiegelt er ein modernes Erziehungsverständnis in die Dorfgemeinschaft zurück.» Wie subtil der Film die Spannung zwischen der traditionellen und der säkularen Kultur der Türkei inszeniere, habe die ökumenische Jury überzeugt.
Selbstfindung als Frau
Die Moderne bricht vollends ein, als Sibel im Wald Ali trifft, einen flüchtigen Wehrdienst-Verweigerer aus Istanbul. Zum ersten Mal begegnet sie einem Mann, der auf sie eingeht und sie so nimmt, wie sie ist. Sibel bringt ihm Essen und Medizin und öffnet sich ihm schliesslich auch sexuell. «So findet sie sich als Mensch und als Frau», sagt Charles Martig.
Am Ende des Films des Filmerpaars Guillaume Giovanetti und Çağla Zencirci ist Sibel eine selbstbewusste junge Frau, die den Mut hat, den Dorfbewohnern zu verkünden, dass es den bösen Wolf im Wald gar nicht gibt. «Sie hat ihren Platz im Dorf gefunden», so Martig. Zwar wird Sibel das dörfliche Patriarchat nicht ändern, aber sie verhilft immerhin ihrer Schwester dazu, die Chance für eine Schulbildung wahrzunehmen.
Frauen kommen im Mainstream an
Starke Frauenfiguren wie Sibel haben im Arthouse-Kino schon länger ihren festen Platz. Sie seien jedoch auch in Mainstream-Filmen angekommen, sagt Filmpublizist Martig. Als Beispiel nennt er den Hollywood-Streifen «Wonder Woman» aus dem Jahr 2017, in dem erstmals eine weibliche Superheldin im Zentrum steht – und kein männlicher Superheld wie Superman, Spiderman oder Batman. Jüngst wurde die Schauspielerin Glenn Close für ihre Rolle in «The Wife» ausgezeichnet, einem Film über die Frau eines Literaturnobelpreisträgers. «Hollywood ist am Herausfinden, dass man auch mit weiblichen Figuren Geld machen kann. Das ist ein wichtiges Zeichen für Gleichberechtigung», sagt Charles Martig.
Sabine Schüpbach, reformiert.info, 14. Januar 2019
Sie jagt den Wolf und findet sich selber