«Singen ist ein Menschenrecht»
Paloma Selma und Rhea Hindermann berichten begeistert von ihrer Arbeit mit dem Surprise-Strassenchor. «Wenn wir erleben, wie leidenschaftlich diese Leute singen, bekommen wir immer wieder Gänsehaut», sagen beide. Paloma Selma baut den Chor seit 15 Jahren auf. Rhea Hindermann leitet ihn seit zwei Jahren künstlerisch.
Der Strassenchor ist kein Chor wie jeder andere. Wer hier mitsingt, hat die Schattenseiten des Lebens erfahren und weiss, was es bedeutet, durch die Maschen der sozialen Netze zu fallen. «Viele unserer Mitglieder führen kein stabiles Leben», so Selma. Die Kulturmanagerin kümmert sich um die Organisation des Chores und begleitet die Mitsingenden. Vor ihrer Tätigkeit bei Surprise stand sie als Profitänzerin auf der Bühne, bis ein Unfall ihre Laufbahn beendete.
Aufgrund ihrer persönlichen Geschichte kann sie sich gut in Menschen einfühlen, die Krisen erleiden. «Manche unserer Sängerinnen und Sänger leiden unter Armut, körperlichen und psychischen Problemen, haben keine Arbeit oder kein Dach über dem Kopf. Dass sie trotz allem zum Singen kommen, beeindruckt mich sehr.»
Musik verbindet
Wöchentlich trifft sich die Gruppe in einem Begegnungszentrum in Basel zur Probe. Chorleiterin Rhea Hindermann weiss im Voraus nicht genau, wer da sein wird. «Ungefähr 24 Leute kommen regelmässig, insgesamt sind wir 30 Personen.» Die meisten sind zwischen 40 und 50 Jahre alt, die jüngste Sängerin ist 23.
Zehn Männer bilden das Bass- und das Tenorregister. «Wir vereinen über zehn Nationen und singen Lieder aus aller Welt, unter anderem auf Deutsch, Englisch, Serbisch, Spanisch, Hawaianisch oder in afrikanischen Sprachen», erzählt sie. «Die Musik verbindet unsere multikulturelle Gruppe.»
Mitsingen darf, wer Freude an Musik hat. «Wir singen bis zu vierstimmig, aber bei uns muss niemand Noten lesen können», so die Sängerin und Schauspielerin Rhea Hindermann. «Die Leute blühen beim Singen auf. Es kommt vor, dass jemand seine Ängste und Unsicherheiten überwindet und sogar ein Solo übernehmen möchte.»
Die Voraussetzung dafür sei gegenseitiges Vertrauen. «Ich muss wissen, was ich von den Sängerinnen und Sängern verlangen kann. Ob ich zu schnell bin, zu viel fordere. Das ist nicht immer einfach.» Die Chorleiterin hat ein klares Ziel: «Es ist toll, wenn die Leute ins Singen kommen, das berührt mich tief. Denn Singen ist ein Menschenrecht.»
Auftritt für den Bundesrat
Das Projekt hat sich mittlerweile zu einem Konzertchor mit 15 jährlichen Auftritten entwickelt, oft zusammen mit professionellen Künstlerinnen und Künstlern aus verschiedenen Sparten. Im vergangenen Dezember sang der Chor anlässlich der Bundesratswahl von Beat Jans auf dem Basler Marktplatz. «Der Auftritt vor so einem grossen Publikum hat uns gestärkt. Es tut gut, wahrgenommen zu werden, wenn man sonst im Leben untergeht», bemerkt Paloma Selma.
Sie weiss, wie wichtig der Zusammenhalt ist, damit die Leute dem Druck, der mit solchen Verpflichtungen verbunden ist, standhalten können. Verbindlich zu bleiben, fällt vielen schwer. «An den Proben reden die Leuten auch über die Lebensthemen, die sie umtreiben. Unser Sozialarbeiter Marco Gioco und ich sind deshalb vor Ort, um dies aufzufangen, zudem vereinbaren wir Sprechstunden.»
In der Gruppe sind einige Personen, die stabiler im Leben stehen, Arbeit und eine Wohnung haben. «Sie begleiten jemanden zur Probe, der Angst hätte, alleine zu kommen, und helfen den Mitgliedern, sich untereinander zu vernetzen.» Der Chor sei wie eine Familie. «Wir feiern Geburtstage gemeinsam, und manchmal gehen wir ins Theater. Einige erleben so zum ersten Mal im Leben ein Konzert.» Rhea Hindermann ergänzt: «Wir fragen nach, wenn jemand länger nicht zu den Proben erscheint.»
Gesang sei ein tolles Element, um Kraft zu schöpfen. «Beim Singen strömt der Atem, und die Energie kann fliessen. Das wirkt wie eine innere Reinigung. So können sich seelische Knoten lösen.» Sie verknüpft die Auftritte des Surprise-Chores mit einer klaren Botschaft: «Unser Miteinander zeigt, wie die Welt sein könnte. Die Musik ist das Element, das uns verbindet und Hoffnung schenkt.
Am 14. April singt der Surprise-Strassenchor um 17 Uhr in der Zwinglikirche zum Thema «Aufstehen». Ein Mutmachgottesdienst, gestaltet von den Sozialdiakoninnen in der Stadt Schaffhausen.
Verein Surprise
Der Verein Surprise unterstützt seit 1998 armutsbetroffene und sozial ausgegrenzte Menschen mit Angeboten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und mit niederschwelliger Begleitung. www.surprise.ngo
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