«Sterben ist ambivalent»
Die Zahl der Menschen, die eine Freitodbegleitung durch Exit in Anspruch nehmen, ist seit 2010 von 257 auf 1125 gestiegen. 88 von ihnen stammen allein aus dem Kanton Baselland. Das Für und Wider, so aus dem Leben zu scheiden, wurde in den letzten Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. Wenig im Zentrum stehen dabei die Hinterbliebenen, die mit den Auswirkungen der Entscheidung eines geliebten Menschen leben müssen.
Die Fachstelle für Genderfragen und Erwachsenenbildung veranstaltete mit der Ökumenischen Koordinationsstelle Palliative Care Baselland ein Podiumsgespräch im Jakobshof in Sissach, das sich der Frage stellte: Wie geht es dem Umfeld, wenn jemand gehen will? Unter der Gesprächsleitung von Spitalseelsorgerin Regine Munz diskutierten ein Polizist, eine Heimleiterin, eine Ärztin, eine Palliativ-Pflegeexpertin und Pfarrer Ulrich Dällenbach.
Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Sterben?
«Es gibt eine grosse Parallelität zwischen der Geburt und dem Sterben», beobachtet Regine Munz. «Wir können bestimmen, wie ein Mensch gezeugt wird und wann er geboren wird. Die gleiche Selbstbestimmtheit wollen wir auch beim Tod.» Gerade die Wahl des Zeitpunkts des Todes sei, was den Angehörigen unter Umständen am meisten zu schaffen macht. Gehe ich vor der Geburt des nächsten Enkelkindes? Verbringe ich noch den letzten Sommer mit meinen Nächsten? «Solche Entscheidungen», sagt Munz, «können schmerzhaft für die Angehörigen sein.»
Die Pflegeexpertin der Palliativstation, die am Abend auf der Bühne sitzt, erzählt, ihre Mutter sei mit Exit gestorben:
Schwierige Gespräche mit dem Angehörigen
Der Tod hat eine starke soziale Komponente, die über den Wunsch der Selbstbestimmung hinausgeht. Wie Angehörige den Abschied erleben, hat stark mit der Art der Kommunikation zu tun, die sie im engen Familien- und Freundeskreis pflegen. «Menschen, die mit Exit gehen», sagt Pfarrer Matthias Plattner, der die Podiumsveranstaltung mitorganisierte, «pflegen in der Regel ein Bewusstsein für die Endlichkeit des Lebens. Aber dieses Bewusstsein dem Umfeld zu vermitteln, kann sehr schwierig sein.» Ein Mann wollte zum Beispiel seinen Vater nicht mehr treffen, nachdem der sich bei Exit angemeldet hatte. «Er wusste einfach nicht, wie er mit seinem Vater über den Tod sprechen sollte – und das zog sich über drei Jahre hin.»
Ein offener Dialog in der Sterbevorbereitung kann bereits als essenzieller Teil der Trauerbewältigung wirken. «Uns fehlt oft das Übergeordnete», sagt Regine Munz. «Früher gab es ein Trauerjahr, man trug Trauerkleidung: Die Riten und die Strukturierung von Trauer fallen heute weg.»
Der Tod muss nicht perfekt sein
Selbstbestimmtes Sterben und selbstbestimmtes Trauern: Gerade für Hinterbliebene kann das zur Überforderung werden. «Wir stellen uns den perfekten Tod im Kreise der Grossfamilie vor», sagt Munz. «Aber manche Menschen sterben lieber allein, manche Angehörige sind überfordert, beim Tod dabei zu sein. Wir sind ambivalente Wesen und müssen diese Ambivalenz aushalten. Das Sterben und der Tod müssen nicht perfekt sein.»
Polizeiverhör nach dem Tod
Für Angehörige ist der Tod nicht das Ende des Sterbens eines geliebten Menschen, gerade wenn das Angebot von Exit oder Dignitas in Anspruch genommen wird. Die Mitarbeitenden sind unmittelbar nach der Feststellung des Todes durch die Ärztin dazu verpflichtet, die Polizei zu verständigen. «Das kann sehr belastend sein», sagt der junge Liestaler Polizist am Podium. «Wir müssen die Anwesenden verhören, um zu klären, ob ein Straftatbestand vorliegt. Das machen wir nicht, um sie blosszustellen. So will es das Gesetz.»
Das ist einer der Gründe, dass viele Heime so lange gezögert haben, die Sterbebegleitung im Heim zuzulassen. Uniformierte Polizisten schüchtern ein und werfen Fragen auf. «Das Pflegeheim ist das Zuhause der Menschen», sagt die Heimleiterin beim Podium. «Wenn ein Mensch wünscht, zu Hause sterben zu dürfen, müssen wir diesen Wunsch respektieren.»
Der Tod ist die Grenze der Eigenverantwortlichkeit. Die Herausforderung im Umgang damit besteht darin, einen offenen Umgang mit unseren Werten zuzulassen und zu lernen.
«Sterben ist ambivalent»