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In Bern wird der erste Stolperstein gesetzt

Stolpersteine zum Gedenken an Naziopfer: «Sie sind Teil unseres Lebens»

von Marius Schären/reformiert.info
min
15.06.2023
Jetzt erhält auch die Bundesstadt Stolpersteine. Roland Diethelm vom Verein Stolpersteine Schweiz sagt, warum und was er von der Kritik hält.

Die «Stolpersteine» sind das nicht wörtlich: In den Boden eingelassene kleine Messingquadrate, die Opfern der Nazis gedenken. Die Idee dazu hatte der deutsche Künstler Gunter Demnig Anfang der 90er Jahre. Inzwischen wurden in vielen Ländern Zehntausende von Stolpersteinen verlegt. In der Schweiz gibt es sie in Kreuzlingen und Zürich, jetzt neu auch in Bern. Mitglied im Vorstand des Vereins ist der reformierte Pfarrer Roland Diethelm. Er sagt im Interview, wie es zu den Steinsetzungen kommt und was der Verein der teils auch jüdischen Kritik entgegenhält.

 

Warum braucht es die Stolpersteine in Bern?

Roland Diethelm: Einerseits gibt es Berner Opfer des Nationalsozialismus. Und deshalb ist es in Bern wie in anderen Städten und Orten sinnvoll, uns und vor allem unsere nächsten Generationen daran zu erinnern, dass nicht nur die Täter mitten unter uns lebten, sondern auch die Opfer unseren Alltag teilten. Andererseits ist die Bundeshauptstadt ein wichtiger und oft beachteter Treffpunkt für Verantwortungsträgerinnen und -träger aus dem ganzen Land und voll von Touristen. Sie alle sollen nicht nur die gut erhaltene Altstadt bewundern, sondern auch an diesen Teil unserer Geschichte erinnert werden.

Wie ist der Verein «Stolpersteine Schweiz» auf diese fünf Menschen gekommen?

Am Anfang steht immer die Recherche nach Opfern mit Bezug zur Schweiz. Da gibt es Vorarbeiten, zum Beispiel das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs» der drei Schweizer Historiker Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid. Dieses führt über 1000 Nazi-Opfer mit Bezug zur Schweiz auf. Dann ist auch der Verein Stolpersteine Schweiz daran, zusammen mit Dritten eine Datenbank aufzubauen. Und schliesslich bringen Menschen uns ihre Familiengeschichten, wenn sie von unserer Aktion erfahren. Oft sind diese Geschichten unbekannt oder tabuisiert und brechen erst mit den Nachforschungen und Steinsetzungen auf oder treten ins Licht.

Inwiefern kommuniziert der Verein mit den Nachkommen der Menschen, derer mit Stolpersteinen gedacht werden soll?

Die Suche nach Angehörigen gehört zur Arbeit für die Stolpersteine zwingend dazu. Das ist keine juristische, aber eine moralische Verpflichtung. Und in den meisten Fällen eine ganz wertvolle und eindrückliche Spurensuche und späte Ehrung der Opfer und ihrer Familien. Die Nachkommen empfinden es oft als Genugtuung, dass endlich auch in der Schweiz das Interesse am Schicksal ihrer Angehörigen, ja eine Mitverantwortung übernommen wird.

Die Schülerinnen und Schüler sind sehr engagiert und betroffen von den konkreten Schicksalen und oft von der bürokratischen Kälte.

Das heisst also, dass der Verein vorwiegend Unterstützung erfährt?

Ja, dabei bestätigen Ausnahmen wie etwa das Schweigen der Stadt Payerne auf unsere Anfrage die Regel. Besonders wichtig ist uns die Beteiligung der Schulen, der jungen Generation. Von Seiten der Lehrerschaft erfahren wir grosse Unterstützung. Und die Schülerinnen und Schüler sind sehr engagiert und betroffen von den konkreten Schicksalen und oft von der bürokratischen Kälte. Und wir finanzieren unsere Tätigkeit über Spenden. Da spüren wir natürlich jede Unterstützung. 

Trotzdem gibt es Kritik, auch aus jüdischen Kreisen.

Diese Kritik erreichte uns bei der ersten Steinsetzung in Zürich. Sie ist eigentlich auf eine einzige Person in München zurückzuführen. Doch im Verein Stolpersteine Schweiz und in den Lokalgruppen machen namhafte Vertreterinnen und Vertreter jüdischer Institutionen mit und alle sind positiv eingestellt und dankbar für dieses Mahnmal.  

Was sagt der Verein denn zu den Vorwürfen, die Denkmäler würden mit Füssen getreten, verschmutzt, sie würden nur an den Tod der Menschen erinnern statt an ihr Leben?

Die Kritik ist inhaltlich willkürlich. In und um unsere Kirchen und religiösen Stätten liegen Tausende von Gedenksteinen und Grabplatten, über die alle von uns schon gelaufen sind. Man trampelt ja nicht darauf herum, sondern geht auf seinem Weg und sieht überrascht: «Hier mitten auf meinem alltäglichen Weg liegt ein Mensch aus unserer Vergangenheit. Sie sind mitten unter uns. Sie sind Teil unseres Lebens.» Genau das geben wir ihnen zurück, was die Nazis ihnen nehmen wollten. 

 

Warum Stolpersteine?

Der gemeinnützige Verein Stolpersteine Schweiz engagiert sich für das Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus, die zumindest einen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbrachten, von den Schweizer Behörden nicht oder unzureichend geschützt oder gar an Nazideutschland ausgeliefert wurden. Der Verein setzt dafür an ihren ehemaligen Wohn- oder Arbeitsorten Gedenksteine. Die Steinsetzungen werden realisiert in Zusammenarbeit mit dem Künstlerehepaar Gunther und Katja Demnig und – wo möglich –mit den Nachkommen der Opfer. Aufgrund solcher Initiativen wurden bereits in 27 Ländern über 90’000 Stolpersteine gesetzt (Stand Februar 2022).

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, an dem er seit 1992 arbeitet. Die quadratischen Messingtafeln mit abgerundeten Ecken und Kanten sind mit von Hand mittels Hammer und Schlagbuchstaben eingeschlagenen Lettern beschriftet und werden von einem angegossenen Betonwürfel mit einer Kantenlänge von 96 × 96 und einer Höhe von 100 Millimetern getragen. Sie werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer niveaugleich in das Pflaster bzw. den Belag des jeweiligen Gehwegs eingelassen.

 

Wie geht es weiter mit den Stolpersteinen in der Schweiz?

Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, jährlich mindestens zwei neue Steinsetzungen zu organisieren. Ziel ist es, die Stolpersteine exemplarisch in der ganzen Schweiz ins Bewusstsein zu bringen. Wir bieten ebenfalls Unterrichtsmaterial an und Hilfe bei der Unterrichtsgestaltung. Zudem organisieren wir die Pflege der Stolpersteine und das Andenken.

Die Idee geht auf den deutschen Künstler Gunter Demnig zurück. Inwiefern hatte der Verein bei den Setzungen mit ihm zu tun?

Gunter Demnig beziehungsweise seine Werkstatt stellen die Steine her und liefern sie, jeden einzelnen. Sie und seine Historiker und Historikerinnen reden auch mit bei den Texten. Und in Bern wird der Künstler persönlich anwesend sein und sprechen. 

 

Erste Stolperstein-Setzungen in Bern

Am 15. Juni 2023 wird der Verein Stolpersteine Schweiz erstmals auch in Bern Stolpersteine setzen, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern:

Arthur Bloch, Monbijoustrasse 51
Lucien Leweil-Woog, Spitalgasse 14
Guido Zembsch-Schreve, Distelweg 1
Simon und Céline Zagiel, Genfergasse 22

Die Standorte für die geplanten Steinsetzungen finden Sie auch auf folgender Karte.

Ab 18 Uhr findet im Zentrum Paul Klee (Monument im Fruchtland 3) eine Gedenkveranstaltung mit Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kultur statt. Es sprechen Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, der Schriftsteller und ehemalige Nationalrat François Loeb, der Historiker Josef Lang und der Rapper und Beatboxer Knackeboul.

Die Lokalgruppe Stolpersteine Bern und der Verein Stolpersteine Schweiz laden alle Interessierten herzlich ein.

Hier geht es zum Flyer zur Steinsetzung in Bern am 15. Juni. 

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