Syrischer Christ in Bern: «Wir sind frei»
«Ich bin glücklich heute. So viele Jahre haben wir darauf gewartet, das Regime zu stürzen. Wir sind frei», sagt Rafi am Sonntagabend vom 8. Dezember auf dem Berner Bahnhofsplatz. Seinen richtigen Namen möchte er nicht publizieren lassen.
Rund 200 Syrierinnen und Syrer haben sich um 17 Uhr unter dem Baldachin versammelt. Sie tanzen, stimmen die Oppositionsgesänge an, verteilen Süssigkeiten und wickeln sich die neue syrische Flagge um die Schultern. Auch wenn die Zukunft des Landes ungewiss ist, ist für viele Syrerinnen und Syrer der 8. Dezember ein Freudentag. Denn ihr Land ist jetzt frei von der al-Assad-Dynastie, die es über 50 Jahre lang beherrscht hat.
Repression und Gewalt
1970 riss Hafez al-Assad mit einem Staatsstreich die Macht an sich. Das erste Mal in der syrischen Geschichte gehörte der neue Präsident einer konfessionellen Minderheit an: den Alawiten. Diese gehören dem schiitischen Islam an und sind nicht zu verwechseln mit den türkischen Aleviten.
Die Jahre unter Hafez al-Assad waren geprägt von Repression, Gewalt und Schreckensherrschaft. Wer auch nur einen Witz über den Präsidenten erzählte, wurde von den Geheimdiensten ins Gefängnis gesteckt. 2000 wurde sein Sohn Baschar al-Assad neuer Präsident Syriens. Erst weckte er Hoffnung, das Land würde sich öffnen.
Doch das änderte sich 2011, als er mit Waffengewalt auf Syrerinnen und Syrer reagierte, die im Zuge des Arabischen Frühlings ihre Rechte einforderten. Die Zahl der Todesopfer wird bis zu einer halben Million geschätzt, 100'000 Menschen gelten als vermisst, 7,2 Millionen sind innerhalb Syriens vertrieben worden. Und 6,5 Millionen Menschen flohen ins Ausland.
Nebeneinander oder miteinander
In Syrien lebten seit jeher verschiedenen Religionsgemeinschaften: Die Mehrheit der Syrer identifiziert sich mit dem sunnitischen Islam. Daneben aber ist Syrien Heimat vieler religiöser und ethnischer Gruppen wie Kurden, Armenier, Turkmenen, dem Zweig der Schiiten zugehörigen Alawiten und Ismailiten sowie verschiedene christlichen Konfessionen, darunter griechisch-orthodoxe Christen sowie Drusen, Jesiden, Bahai und Juden.
Was mitunter als religiöses Zusammenleben beschrieben wurde, war in Realität eher ein unabhängiges Nebeneinander. Und das al-Assad-Regime betrieb eine sogenannte «Konfessions-Politik»: So wurde eine Staatsstelle etwa nur mit jener Person besetzt, die der gewünschten Religion zugehörte.
Mit dem Ausbruch des Volksaufstandes 2011 schürte Baschar al-Assad dann sehr bewusst die Ängste der Minderheiten vor der sunnitischen Mehrheit, um sie so auf seine Seite zu bekommen. Kurz nach 2011 bezeichnetet er die Demonstrationen als Werk sunnitischer Extremisten. Den Christen wurde gesagt, dass nur das Regime die Minderheiten vor den Radikalen beschützen würde.
Von extremen zu gemässigten Ansichten
Deshalb unterstützten offizielle Vertreter von Kirchen oft öffentlich das al-Assad-Regime. Bischöfe und Patriarchen hätten ihre Loyalität zum Assad-Regime nicht zwingend aus Überzeugung offen bekundet, sondern auch aus Pragmatismus, sagt Friederike Stolleis von der der Friedrich-Ebert-Stiftung.
In einer Studie 2016 hielt sie fest: «Wenn sie sich gegen das Regime gewandt hätten, dann wäre es mit dem Schutz der Minderheiten schnell vorbei gewesen. Allerdings ist das natürlich langfristig ein sehr riskanter Kurs, weil wenn das Regime stürzt, stehen sie ohne Schutz da und mit der Verantwortung, das Regime gestützt zu haben.»
Nun ist am 8. Dezember dieser Sturz eingetroffen. Was die Zukunft bringen wird, ist unklar. Die Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) unter deren Anführer Abu Mohammad al-Golani die von Norden her die syrischen Städte befreit hat, hat ihre Wurzeln in einem syrischen Ableger der extremistischen Al-Qaeda.
Doch al-Golani tauschte den Turban gegen den Anzug, seinen bürgerlichen Namen gegen seinen Kampfnamen. Heute zeigt er sich heute als Freiheitskämpfer mit gemässigten Ansichten. Er distanziert sich von seiner militanten Vergangenheit und sichert den religiösen Minderheiten Sicherheit zu.
Zusicherung für religiöse Minderheiten
In einem Facebook-Post vom 8. Dezember schreibt die Politikwissenschaftlerin Elham Manea von der Universität Zürich, die Skepsis gegenüber diesem Wandel sei gross: «Al-Golanis Zusicherung gegenüber religiösen Minderheiten ist zwar bedeutsam, bleibt aber unbewiesen. Wird die HTS den Pluralismus wirklich annehmen, oder ist dies ein strategische Manöver zu Konsolidierung der Macht?»
Parallelen zu anfänglich moderaten Versprechen wie bei den Taliban seien offensichtlich, hält Manea fest. Der Fall Libyen sei eine deutliche Warnung: Einst durch den Sturz des Machthabers Gaddafi geeint, gingen die Fraktionen bald aufeinander los und stürzten das Land in Chaos und Gewalt.
Bereits sind Stimmen zu hören, die christliche Gemeinschaft laufe nun in Syrien Gefahr, ausgelöscht zu werden – nicht nur titelte sinngemäss die Sonntagszeitung vom 8. Dezember, auch im Interview mit Pierre-Jean Luizard auf Vatican News.com ist diese Haltung zu lesen.
Glücklich und traurig zugleich
Auf ihrer Facebook-Seite publiziert die armenische Kirche in Aleppo, dass der Pfarrer in diesen schwierigen Zeiten die Wichtigkeit von Geduld, Beharrlichkeit und Einigkeit in der «Überwindung der derzeitigen Schwierigkeiten» betont. Nach der Eroberung der HTS am 6. Dezember stehen gemäss Beobachterinnen die Weihnachtsbäume in den christlichen Vierteln Aleppos noch, Gottesdienste finden statt.
Viele Syrerinnen und Syrer träumen von einem freien Syrien. So auch Rafi, der am 8. Dezember den Sturz der Regierung in Bern feiert. Der Christ glaubt, dass ein Syrien möglich ist, in dem alle Bevölkerungsgruppen miteinbezogen werden. Auch wenn Rafi an diesem Tag vor allem Freude verspürt, überkomme ihn mit der Nachricht über Baschar al-Assads Flucht nach Moskau auch Traurigkeit: «Dies verunmöglicht vorerst, dass er vor Gericht gestellt und seine beispiellosen Verbrechen aufgearbeitet werden.»
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