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«Theologie und Rhetorik sind miteinander verwoben, vernetzt und verflochten»

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13.10.2021
Der Pfarrer Tillmann Luther brennt für die Rhetorik, die Kunst des Redens. Gerne hilft er auch anderen, sich in dieser Fertigkeit weiterzuentwickeln.

Herr Luther, Sie sind Pfarrer und haben soeben ein Buch über Rhetorik publiziert. Was hat Rhetorik mit Theologie zu tun?
Theologie und Rhetorik sind miteinander verwoben, vernetzt und verflochten. Es beginnt bei Jesus und den Aposteln und geht über die Kirchenväter und die Reformatoren bis hinein in die Gegenwart. Jesus war ein hervorragender Redner, Paulus ebenso. Der Reformator Martin Luther galt zu seiner Zeit als «deutscher Cicero», und der US-Bürgerrechtler und Theologe Martin Luther King begeisterte in den 1960er-Jahren seine Zuhörerschaft mit seinen feurigen Reden.

Sie erwähnen im Buch auch Paulus als guten Redner. Er selbst schreibt von sich aber anders: «Bin ich auch in der Redekunst ein Laie, so doch nicht in der Erkenntnis.» (2. Kor. 11,6)
Bescheidenheit ist eine Zier, und natürlich wirkt es sympathisch, wenn auch ein Rhetoriker bescheiden auftritt. In Wahrheit war Paulus rhetorisch geschult und ein glänzender Redner, das ist aus seinen Briefen ersichtlich, und auch der reformatorische Gelehrte Philipp Melanchthon erwähnte ihn als beschlagen in griechischer und römischer Rhetorik. Paulus’ Athener Rede in Apostelgeschichte 17 zeigt, dass er sich mit dem kulturellen Umfeld seines Publikums auseinandergesetzt hat. Und dass er viel über die kulturellen und philosophischen Strömungen vor Ort weiss. Er geht auf die Leute ein, die ihm zuhören – und bleibt bei alledem doch seiner Botschaft treu. Auch rhetorische Figuren weiss er geschickt einzusetzen. Etwa die Epipher, die suggestive Wiederholung am Schluss von Sätzen. Diese Figur wendet er eindrücklich im 2. Korintherbrief an, Kapitel 11, Vers 22: «Sie sind Hebräer, ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams – ich auch.»

In der Bibel finden wir aber auch einen eindeutig schlechten Redner, nämlich Moses. Einverstanden?
Ja – aber Gott stellt ihm einen Coach in Form seines redegewandten Bruders Aaron zur Seite. Zusammen mit Aaron setzt sich Moses dann ja auch durch. Auch heute sind Rhetorik-Coaches gefragt. Denn das Halten von Reden ist letztlich ein Handwerk, das sich bis zu einem gewissen Grad erlernen und trainieren lässt. Die Talentierten bringen es dabei zur Meisterschaft, die anderen doch immerhin auf ein solides Niveau.

 

«Das Halten von Reden ist letztlich ein Handwerk, das sich bis zu einem gewissen Grad erlernen und trainieren lässt.»

 

Was macht gute Rhetorik aus?
Nehmen wir als Beispiel Jesus. Er holt seine Zuhörerinnen und Zuhörer dort ab, wo sie stehen. Er verwendet Begriffe aus ihrem Alltag. So lädt er Fischer ein, ihm nachzufolgen und Menschenfischer zu werden. Das verstehen sie, das hat unmittelbar mit ihrer persönlichen Welt zu tun. Jesus braucht anschauliche Bilder, stellt plastische Vergleiche an und erklärt Komplexes anhand von Gleichnissen, die sich anhören wie Erzählungen aus dem Alltag. Er versteht sich auch auf die wirkungsvolle Übertreibung: «Ärgert dich dein Auge, so reisse es aus.» Oder: «Die eine Hand weiss nicht, was die andere tut.» Das ist gut, das wirkt wie ein vierfacher Espresso! Bei alledem ist Jesus nie manipulativ. Der manipulative Redner stellt seine Übertreibungen als Wahrheit dar, bei Jesus bleibt immer klar, dass er in Bildern spricht, um seine Botschaft möglichst einprägsam zu verkünden.

Soll sich der Redner, die Rednerin vor allem auf das Publikum einlassen oder vor allem versuchen, sich nicht zu verbiegen, also authentisch zu bleiben?
Beides. Ich stelle mich auf die Leute ein, zu denen ich spreche. Vielleicht ist es ein Bäckerverband, vielleicht ein politisches Gremium, vielleicht sind es Pädagoginnen und Pädagogen ... Je nachdem brauche ich andere Bilder und Vergleiche. Zugleich versuche ich, immer so authentisch als möglich zu sein. Ich möchte nicht wirken wie einer, der künstlich in ein Mikrofon vor Publikum spricht, sondern wie Tillmann Luther, unverstellt und natürlich.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Rhetorik-Ratgeber zu schreiben?
In den letzten zwei Jahrzehnten ist es für mich zu einer Leidenschaft geworden, nicht nur selber zu sprechen, sondern auch anderen zu helfen, ihre rhetorischen Fähigkeiten zu entwickeln. So werde ich eingeladen von Gruppen, Organisationen und Gremien, die Impulse für besseres Reden bekommen möchten. Ich referiere vor Reformierten und Katholiken, im Militär, bei Banken, Versicherungsgesellschaften, an Schulen, Charity-Veranstaltungen und so weiter. Ich war auch schon zweimal zu Gast bei der Schweizerischen Vereinigung für Stotternde. Fantastisch – Leute, die sonst ins Stottern fallen, haben dies beim Stegreifreden ganz vergessen! Überhaupt liegt bei vielen Menschen grosses rhetorisches Potenzial brach. Ich habe unlängst in Deutschland einen Gottesdienst erlebt, bei dem die Pfarrerin erst ganz am Schluss, bei den Mitteilungen, frei gesprochen hat. Und plötzlich wurde es ansprechend, humorvoll, lebendig. Wer sich vom Manuskript löst und sich stattdessen vom Moment, dem Publikum, der Örtlichkeit und seinem Esprit tragen lässt, hat bereits gewonnen.

 

«Ich möchte nicht wirken wie einer, der künstlich in ein Mikrofon vor Publikum spricht, sondern wie Tillmann Luther, unverstellt und natürlich.»

 

Weil Sie Europameister 2013 im Stegreifreden sind, liegt es auf der Hand, dass Sie frei reden. Halten Sie es aber auch beim Predigen so?
Ja, ich predige frei. Natürlich bin ich vorbereitet, ich weiss, worüber ich sprechen werde und wie ich den Bibeltext auslegen will. Im Übrigen aber setze ich ohne Notizen einen Schritt vor den anderen, entwickle meine Formulierungen aus dem Moment heraus und reagiere auf Regungen im Publikum.

Sie reagieren auf das Publikum?
Ja, das kommt vor. Schüttelt jemand bei einer meiner Ausführungen den Kopf? Dann muss ich vielleicht mit einer zusätzlichen Erklärung nachlegen. Ist das Publikum unaufmerksam? Dann muss ich eventuell Humor hineinbringen oder mit einem kraftvollen Bild arbeiten. Wer einmal frei gesprochen hat, will es hernach immer wieder so machen. Es ist lebendiger, spontaner, eindringlicher, authentischer. Und: Wer frei spricht, merkt auch, wenn die Leute genug haben. Dann muss man zu einem Schluss kommen.

Also darf eine Predigt auch unterhaltsam sein.
Unbedingt! Mit Formulierungen wie «Gelegenheit macht Liebe» – statt Diebe, wie wir es vom Sprichwort kennen – oder «Reden ist Gold» – statt Silber – ist Ihnen die Aufmerksamkeit des Publikums gewiss. Und Jesus predigte: «Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein ...» Und so weiter. Das ist Kopfkino, das ist anschaulich und spannend.

 

«Gerade der Dialekt kennt wunderbare Ausdrücke und Redewendungen, die einer Rede Profil und Würze verleihen»

 

Was sollte bei einer Rede oder einer Predigt vermieden werden?
Ich möchte die Frage lieber ins Positive kehren. Was soll man tun, damit eine Rede gelingt? Wählen Sie einen guten Anfang. Wenn ein Pfarrer seine Predigt beginnt mit «Ich muss Ihnen etwas beichten», sind die Ohren der Leute gespitzt. Was, der Pfarrer muss beichten? Und gehen Sie nicht von sich aus, sondern vom Publikum. Was interessiert die Leute mutmasslich? Was möchten sie von einem Bibeltext, einer Predigt, einer Rede mitnehmen? Nebst anschaulichen Bildern, klarer Sprache, Humor, Spontaneität und überraschenden Wendungen ist es auch wichtig, einen guten Schluss zu setzen. Das kann eine Frage sein, eine Aufgabenstellung, ein Aufruf, eine humorvolle Pointe. Solches bleibt haften und sorgt für Nachhaltigkeit.

Welches Wort wirkt nachhaltiger – das gesprochene oder das geschriebene?
Nachhaltig ist beides. Die Nachhaltigkeit des gesprochenen Worts, das man vielleicht auch mit «flüchtig» assoziiert, ist nicht zu unterschätzen. Jesus selbst hat nichts aufgeschrieben. Inhalt und Form müssen stimmen, dann prägt es sich ein, das gilt für Schriftliches und Mündliches.

Sie kommen aus Deutschland. Wir Deutschschweizer hören mit Neid, wie zungenfertig die Deutschen im Alltag sprechen. Sprechen Deutsche generell besser als Schweizer?
Das möchte ich nachdrücklich verneinen. Sprechen hat nichts mit angeborenem Talent, den Menschen oder der Hochsprache zu tun. Sondern mit Leidenschaft, Übung und dem Willen, sich ständig zu verbessern. Gerade der Dialekt kennt wunderbare Ausdrücke und Redewendungen, die einer Rede Profil und Würze verleihen. Wissen Sie übrigens, wo es europaweit pro Kopf am meisten Rhetorik-Clubs gibt? In der Schweiz. Und wissen Sie, welche Nation bei den Rhetorik-Europameisterschaften in den Bereichen Deutsch und Englisch die meisten Titel erringt? Die Schweiz. Eben.

Interview: Hans Herrmann, reformiert.info

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